Morphin
Vörösmarty-Platz zurück und gehen zu Fuß weiter, auf dem Uferboulevard, erst Hand in Hand, dann Arm in Arm, kommen an der Kettenbrücke vorbei und erreichen die Margreteninsel, wo wir uns in der letzten Oktobersonne auf eine Bank setzen.
«Ich möchte dich küssen», sagt Dzidzia, und ich küsse sie, kümmere mich nicht um die erbosten Mienen zweier Matronen, deren Kleider bestimmt noch zu Franz Josefs Zeiten genäht worden sind.
Ich küsse Dzidzia, ganz ohne Warum und Wozu, ich küsse Dzidzia, um sie zu küssen.
Dann gehen wir weiter und stoßen direkt hinter einer Biegung des Spazierpfads auf ein Restaurant mit Terrasse, von wo der Blick auf die Donau und ihre Brücken geht, keine polnischen Offiziere sind zu sehen, was uns angenehm ist, wir wollen nicht erinnert werden, wie dieser Abend verwehen wird, auch nicht an meine unweigerliche Rückkehr in das vergewaltigte, in sich zusammengesunkene Warschau, in seine kalten, feuchten Wohnungen, den ersten Schnee, die kreuzverklebten Fenster, erloschenen Laternen und das aufgerissene Pflaster, das die Straßen plötzlich in hohe Wogen zu versetzen schien.
Warschau ist weit weg, so weit, als existierte es überhaupt nicht. Wir bitten um Decken und um die Karte, hüllen unsere Knie ein, bestellen und beginnen das Festmahl. Wir essen beide das Gleiche, das scheint uns vertrauter und angemessener zu sein.
Als Aperitif Pflaumenbrand, danach als Vorspeise Schwarzbrot mit Liptauer, köstliche Creme mit gehackten Zwiebeln, Sardellen, Kapern, Kümmel und einem Schuss Bier. Danach eine dicke, gehaltvolle Fischsuppe mit Weizenbrötchen, die Literkaraffe Olaszrizling dazu haben wir bald geleert; Dzidzia belehrt mich, dass dieser Wein nichts mit der elsässischen Plörre ähnlichen Namens gemein hat, wir trinken den Wein aus dickwandigen, grünen Gläsern, dann essen wir ein ordentliches, nach Wiener Art gesottenes Stück Fleisch – einen schönen Tafelspitz mit Meerrettich und Spargelbohnen, dazu trinken wir roten Sankt Laurent aus Erlau, und nach dem Fleisch, wie es sich gehört, Fisch, Zander vom Grill mit Bratkartoffeln und Sauerkraut, und zum Abschluss noch ein Stück Zitronenwurst und noch einen Liter Erlauer Blaufränkischen, dann bestellen wir Kaffee, starken Kaffee, und jeder ein Stück Sachertorte, abschließend noch einmal Schnaps zur Verdauung. Wir stecken uns starke, französische Zigaretten an, und derart satt gegessen, erhitzt vom Alkohol und dem üppigen Mahl, spüren wir die Kühle nicht, die von dem sogar hier nahenden November kündet.
Die Stadt verändert uns, sie macht uns wieder zu Menschen, wir essen und trinken, sind wie Frau und Mann zueinander, Dzidzias Ironie hat sich aufgelöst, sie braucht sie nicht mehr, muss sich nicht mehr vor mir verstecken, wir sind wieder Menschen.
Weiter unten tut die Donau, was man von ihr erwartet, strömt langsam zum Schwarzen Meer, die Zeit strebt dem Ende aller Zeit zu, und wir, betrunken, aber nicht zu sehr, streben langsam dem Tod entgegen, ich begleiche die Rechnung, zwölf Pengő und dreißig Fillér, gebe reichlich Trinkgeld, runde auf zwanzig auf, bitte den Kellner, ein Taxi zu rufen, und wir fahren mit dem schicken Buick, der darauf kommt, auf der Budaer Seite zum Hotel.
«Wann kommst du wieder nach Warschau?», frage ich, noch im Auto.
«Ich weiß nicht. Aber ich komme», sagt sie mit fester Gewissheit.
Wüsste sie nur, wie viel sie noch von dem schrecklichen, aber Erleichterung bringenden Tod im serbischen Wald trennt. Wüsste sie, dass sie noch zurückkommen wird, bevor sie stirbt. Aber das weiß sie nicht, Kostek, sie spürt höchstens etwas ganz dicht unter der Oberfläche des Bewusstseins. Doch du bist taub, mein Lieber.
Bald werde ich dich verlassen.
Dzidzia sitzt neben mir, wir halten uns an der Hand, und ich denke an sie, als wir an den erleuchteten Brücken der seligen Margarete, der Kaiserin Elisabeth und des Kaisers Franz Josef vorbeikommen, und ich weiß: Ich verliebe mich in sie, genau in diesem Augenblick, langsam, in diesem Augenblick, verliebe ich mich Minute für Minute mehr in Dzidzia, Konstanty Willemann verliebt sich in Dzidzia, und Dzidzia verliebt sich in Konstanty Willemann, der Frau und Kind hat, aber das spielt keine Rolle.
Ich denke auch daran, ob wir jetzt, bevor ich fahre, miteinander schlafen werden, und komme zu dem Schluss, dass wir das vermutlich nicht tun. Sicherlich, wenn das Schicksal es erlaubt, wird das früher oder später geschehen, so viel ist sicher, diese
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