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Morphin

Morphin

Titel: Morphin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Szczepan Twardoch
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Sache ist im Lauf der letzten Tage zwischen uns gewachsen, ist geworden, noch ehe wir es bemerkten. Aber noch nicht jetzt. Das wäre übereilig, und wir wollen doch nicht, dass es voreilig geschehe, vielleicht wird uns diese Nähe nur einmal gegeben sein? Außerdem haben wir zu viel gegessen und zu viel getrunken, und zweifellos sind weder Dzidzia noch ich in der richtigen Stimmung, die vollen Bäuche und die tätigen Mägen und Därme schrecken von Intimitäten ab. Es reicht uns, dass wir uns an den Händen halten.
    Als wir im Hotel zurück sind, packe ich einfach meine Koffer und ziehe die Uniform an. Dzidzia wartet lesend im Salon. Ich blicke wieder in den Spiegel und sehe meinen Vater, sehe Baldur von Strachwitz in mir, doch das bin ich, und er in mir, aber dennoch ich, Konstanty Willemann. In deutscher Uniform. Ich knöpfe den Gurt mit dem Halfter zu, den Schulterriemen. Schon im Mantel, einen Koffer in der Hand, trete ich in den Salon.
    Sie legt das Buch beiseite, kommt zu mir, küsst mich auf die Wange, dann auf den Mund.
    «Auf Wiedersehen, Konstanty. Hinterlass mir eine Nachricht bei der Łubieńska, wie ich dich finden kann. Auf Wiedersehen in Warschau.»
    «Ja. Auf Wiedersehen, Dzidzia.»
    Ich streiche ihr übers Haar, gehe – und drehe gleich wieder um.
    «Ich muss dir Geld dalassen.»
    Ich reiche ihr ein Bündel Dollar und behalte selbst einen Hunderter. Sie nickt und lächelt. Dann gehe ich endgültig. Das Taxi wartet schon, wir fahren zum Keleti-Bahnhof. Ich zahle, steige aus und weiter zum Bahnhof, suche den Sonderzug nach Warschau. Ich frage den ersten Dienstmann – der Zug wartet am zweiten Bahnsteig. Die Waggons sind verschlossen, am ersten Wagen hinter der Lokomotive steht ein deutscher Gendarm, unterstützt von zwei gelangweilten ungarischen Blauen mit Bajonetten auf den Gewehren, davor eine kurze Schlange von Offizieren in deutschen Uniformen. Ich stelle mich bescheiden am Ende an. Das Monogramm GFP auf meinen Schulterstücken weckt ein gewisses, kaum verhohlenes Interesse bei den vor mir Stehenden, sie sind jedoch bald wieder dabei, sich vor den Gendarmen umständlich auszuweisen. Unter ihren Papieren erkenne ich immer wieder ein bestimmtes Dokument, das ich natürlich nicht habe. Zweifellos verbreite ich eine Alkoholwolke um mich, was einen Offizier disqualifiziert hätte, nicht jedoch einen Häscher, der den Soldaten nur spielt, nicht den Gestapomann, der ich war oder dessen Uniform ich trug und der mein Vater war, ein Häscher darf alles.
    Manchmal versteht man mehr, als man angesichts seiner Erfahrung eigentlich verstehen kann – mir war, als hätte ich mit der Uniform meines Vaters auch das Gespür für die Position und Situation eines Funktionärs übergestreift, als verstünde ich unbewusst, zu wem diese Uniform mich in den Augen der Offiziere und Soldaten macht. Dabei konnte ich das eigentlich nicht verstehen oder wissen; man muss sich lange mit den Augen der anderen betrachten, um solche Dinge wirklich zu begreifen.
    Statt also irgendwelche Dokumente vorzuzeigen, halte ich die GFP -Scheibe hin, und der Gendarm frage nur:
    «Nach Wien, Prag oder Warschau, Herr Kommissar?»
    «Nach Warschau», erwidere ich, der Mann salutiert und entschuldigt sich bei zwei Offizieren, die sich inzwischen hinter mir angestellt haben, weil er mich – was mir gewiss keine Sympathie einbringt – nun in den Zug begleitet, in einen Pullmanwagen führt, der auch bestimmt nach Warschau fährt. Er weist mir ein Schlafabteil mit einem Bett, salutiert und geht.
    Ich möchte mich nicht ausziehen, bevor der Zug losfährt, weiß Gott, warum, aber es wäre mir unangenehm, also setze ich mich auf die Bettwäsche, ohne auch nur den Mantel abzulegen, und warte, nehme ab und zu einen Schluck Cognac, und der Zug fährt endlich los, fährt nach Norden, und ich pelle eine Gabardineschicht nach der anderen von mir ab, ziehe das Hemd aus und wühle mich, nur in Unterwäsche, in das frische, gestärkte, deutsche Bettzeug. Ich hätte einkaufen sollen, fällt mir noch ein, so viele Sachen, die es in Warschau jetzt nicht gibt, hätte ich mitbringen können, nichts habe ich gekauft, aber dann denke ich: Gut, dass ich nichts gekauft, mich nicht bemüht, mir die Taschen nicht vollgestopft habe. Dadurch lebe ich vielleicht noch. Und wenn ich lebe, werde ich weiterleben.
    «Ich bin Konstanty Willemann», flüstere ich im Dunkeln.
    Betrunken schlafe ich ein, noch bevor draußen die Lichter Budapests ausgehen.
    Ich träume.
    Ich

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