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Morphin

Morphin

Titel: Morphin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Szczepan Twardoch
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du einen Tee, Konstanty?», fragt sie.
    Und jetzt habe ich verstanden. Sehe alles in ihrem Blick. Sehe all meine Selbstlügen.
    «Ich will keinen Tee.»
    «Gut, gut. Was gibt’s bei dir, mein Sohn? Ich habe in der Madalińskiego angerufen, niemand hat abgehoben.»
    «Ich war in Budapest», antworte ich unwillkürlich.
    Sie sieht mich durchdringend an, aber was heißt das, durchdringend? Sie schaut gar nicht durchdringend; sie betrachtet mich aufmerksam, doch ihr Blick durchdringt mich nicht. Jetzt verstehe ich das. Früher kam es mir so vor, als könnte sie in mich hineinsehen, könnte mein Inneres erkennen, aber jetzt begreife ich: Das ist nicht so. Ich bin jemand anders.
    Bin ich jemand anders?
    Ich habe mich verändert. Dzidzia hat mich verändert.
    Wirklich?
    Ich weiß nicht. Aber wenigstens sehe ich klarer.
    Ich sehe dich jetzt: arme, wahnsinnige Alte, deren ganzes Leben dein einer, einziger Sohn ist. Ich. Konstanty Willemann. Eine intelligente, verrückte Alte, die sieht und versteht, wie mein Leben sinnlos verstreicht, die versteht, dass aus mir nichts werden wird, und die weiß, dass das ihre Schuld ist. Nicht meine, ihre. Sie gab mir alles, und das war zu viel. Alles, was ich habe und hatte – habe ich bekommen. Ruhe, Wohlstand, sogar die Frau habe ich von ihr, wenn man es genau bedenkt. Nur die Nutten, der Wodka, die Drogen, die Affären, nur das war meins, das habe ich allein geschafft. Schließlich habe ich mir weder Grudziądz erarbeitet noch das Offizierspielen im Regiment, die Ulanen, die Maschinengewehre, die Leuchtmunition, all das hat sie mir gegeben, wer wäre ich ohne sie?
    Und sie ohne mich – wer?
    Deshalb sieht sie mich an und macht sich Sorgen, einfach so, als Mutter. Warum Budapest? Wozu Budapest? Und wirklich Budapest?
    Und warum hat sie diese Uniform angezogen – jetzt, dumm, wie ich bin, begreife ich erst. Natürlich. Ich kann es schwer ertragen.
    «In Budapest warst du? Wozu?», fragt sie endlich.
    «Ach, Sachen erledigen. Verschiedene. Ich muss auch schon wieder weg.»
    «Warte, Konstanty, du sagst gar nichts, was ist denn mit dir …»
    Aber ich stehe auf. Ich wende mich ab. Dummkopf. Dummkopf. Das ganze Leben, dreißig Jahre lang, Dummkopf.
    «Bleib noch sitzen, Konstanty! Brauchst du nichts?»
    Sie würde mir gern Geld geben. Aber ich öffne schon die Tür.
    «Warte!» Sie fährt geradezu von ihrem Schreibtisch hoch.
    Aber ich gehe. Laufe beinahe hinaus, trotz des Koffers laufe ich. Ich laufe, der Koffer haut gegen meine Beine, Dummkopf, blöder Dummkopf.
    Wohin laufe ich? Ins Lours? Nein, das Lours ist eine Lüge. Schon bin ich außer Atem, die Leute schauen komisch, ein Kerl mit Koffer, der rennt, aber nicht zum Bahnhof, nicht zum Zug, also werde ich langsamer, gehe, aber ich gehe wie mechanisch und weine sogar ein bisschen, alles Lüge, blöder, blöder Dummkopf, das ganze Leben Lüge.
    Ich bin Konstanty Willemann Lüge. Ich mag Autos Lüge. Ich mag keine Pferde Lüge.
    Die Podwale-Straße Lüge. Treppe Lüge. Tür Lüge. Ich klopfe Lüge. Ich keuche Lüge.
    Hela öffnet die Tür einen Spalt weit. Sie haben eine neue Kette.
    «Komm rein, Vater ist nicht da», sagt sie einfach und macht auf.
    Ich gehe rein. Weiß nicht, was ich sagen soll, sage nichts.
    «Jurek?», frage ich nur.
    «Jureczek!», ruft Hela.
    Und er kommt. Verängstigt.
    «Jureczek, sag dem Papa guten Tag.»
    «Guten Tag, Papa.»
    «Guten Tag, Jureczek.»
    Lüge.
    Ich laufe auf ihn zu, er weicht zurück, nichts habe ich ihm mitgebracht aus Budapest, nicht mal ein Stück Schokolade, nichts.
    Er weicht zurück, aber ich ziehe ihn an mich, drücke ihn fest, Jurek, mein kleiner Jurek, wie konnte ich dich verlassen, vergessen, nicht bei dir sein, dich nicht beschützen, nähren, dir, der du so klein bist, die Welt nicht geneigt machen, du bist ja gar kein anderer kleinerer Ich, sondern jemand völlig anderes.
    «Lass mich, Papa, lass», schreit Jureczek.
    Ich lasse ihn los. Er rennt in sein Zimmer.
    «Du kannst hier nicht so einfach herkommen», sagt Hela.
    «Ich liebe dich, Helena», sage ich und drehe mich zu ihr um.
    «Mach darüber nicht einmal Witze, Kostek, keine Witze. Geh nach Hause.»
    «Ich kann so nicht. Ich ertrage diese Farce nicht, dieses Getue, ich will mit dir und Jureczek sein.»
    Lüge.
    «So wie es jetzt ist – das ist wahrhaftiger, ehrlicher, als wenn wir so tun würden, als ob, Konstanty.»
    Ich stehe. Jureczek spielt mit einem Lastwagen, fährt damit über den Teppich.
    Wie Helena ist, weiß

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