Morphin
auf, gegen den es Tabletten am Kiosk geben müsste, etwas wie Aspirin.
Ich zahle fünf Dollar, habe keinen kleineren Schein als diesen mit Lincoln darauf, und das ist so viel, dass der Droschkenkutscher dem Deutschen sogar herausgeben will, ich winke ab, der Schnauzbart druckst ein «danke», als spucke er aus, und fährt ab, und mir geht durch den Kopf, dass ich ihn erschießen könnte, ich habe nur keine Lust dazu. Aber ich könnte schon. Wenn man das vor dem Krieg konnte und höchstens drei Jahre dafür bekam, unter Brüdern, dann konnte ich es auch nach dem Krieg. Aber ich habe keine Lust.
Ich steige die Treppe hoch, die vertrauten Stiegen, aber ich steige schon wie ein anderer, anders als früher; so oft hatte ich mich an dieses morsche Geländer geklammert.
Da stehe ich vor der vertrauten, guten Tür. Zögere eine halbe Sekunde, dann drücke ich die Klinke – die Tür ist offen, nur die Kette eingelegt. Ein Ruck – die Kette hält.
«Was ist da los, zum Teufel!», brüllt eine männliche Stimme aus der Wohnung, und ich höre Schritte, sehe gleich darauf von nahem ein Gesicht, das ich kenne, den Deutschen mit den wässrigen Augen, den ich vor zwei Wochen bei Salomé getroffen habe, mit Tumanowicz, und dieser Kerl ist jetzt bei Salomé, allein.
Und als er mich sieht, in Uniform, ist er die ersten Sekunden schockiert, dann erkennt er mich und ist noch viel schockierter, und als ich ihm die Plakette Geheime Feldpolizei zeige, wird er ohnmächtig und stürzt zu Boden.
Hinter ihm taucht Salomé auf.
Meine Salomé. Eine Woche habe ich sie nicht gesehen, und schon ist sie eine ganz andere. Ich weiß nicht, ob es meine Einbildung ist und nur so aussieht, aber sie ist eine ganz andere.
Sie bemerkt mich durch die einen Handbreit offene Tür.
«Gott, was hast du ihm getan?», stöhnt sie.
«Nichts. Er ist ohnmächtig geworden. Vor Angst vermutlich», erwidere ich.
Salomé hängt die Kette aus, lässt mich ein. Und mustert mich beziehungsweise meine Uniform.
«Was ist das überhaupt?» Sie zeigt auf mich.
«Verkleidung», antworte ich wahrheitsgemäß.
Wahrheitsgemäß? Die Uniform meines Vaters – eine Verkleidung? Ich ein Schauspieler, der sich in einen Kommissar der GFP Baldur von Strachwitz verwandelt hat? Die Sporen an seinen Kavalleriestiefeln – Verkleidung?
«Das ist die Uniform meines Vaters. Er hat sie mir gegeben», erkläre ich, ganz überflüssig, erkläre dennoch.
«Und was soll ich jetzt mit ihm machen?», fragt Salomé vorwurfsvoll, als wäre es meine Schuld, dass ihr Freier das Bewusstsein verloren hat.
«Warum ist er so über mich erschrocken? Weil er sah, dass ich eine Uniform der Geheimen Feldpolizei trug?»
Salomé sieht mich jetzt aufmerksamer an.
«Geheime Feldpolizei? A schto eto?»
«Militärgestapo».
«Dein Papa ist Militärgestapo und hat dir seine Uniform gegeben?»
«War er, jedenfalls.»
«Aha. Na, dann ist klar, warum der sich erschrocken hat.»
«Aber warum?»
«Weil er ein Jewrej ist. Ein Jude. Er ist zur Wehrmacht gegangen, um nicht ins Lager zu müssen. Und als er dich als Polizisten sah, dachte er, du kommst ihn holen.»
Ich sehe zu ihm hin. Ich sehe ihn deutlicher als damals, als ich ihm das erste Mal begegnet bin. Damals sah ich nur den Deutschen mit den Wasseraugen, jetzt, in der Uniform meines Vaters, sehe ich ihn mit den Augen meines Vaters. Leutnant. Infanterie.
«Mach ihn wach, er soll verschwinden und nie wiederkommen.»
«Aber wie kriege ich den wach?» Salomé ringt die Hände.
Ich gehe in die Küche, fülle einen Blechbecher mit kaltem Wasser und gieße es dem Leutnant ins Gesicht.
Er wird sofort munter, sieht mich an mit diesen Augen, die mir damals blass, groß, warm, feucht und bedrohlich vorkamen, er sah mich damals an, als wollte er mir klarmachen, dass es für ihn ein Leichtes wäre, mich zu töten, aus der Nähe, auf der Stelle, sofort. So war mir das vorgekommen.
Jetzt sehen mich dieselben großen, hellblauen Augen an, wie die schwarzen Augen des Rehs vor Görings Doppelflinte. Er hat Angst, verzweifelte, hoffnungslose Angst.
«Verschwinde», sage ich. «Und komm nie wieder.»
Er steht ohne ein Wort auf, packt rasch seine Sachen zusammen, den Mantel, den Gurt mit Halfter, die Mütze, und rennt fast aus der Wohnung, ohne noch etwas zu sagen. Er hat niemals einen Fuß in diese Wohnung gesetzt. Und ich bleibe mit Salomé allein.
Nehme die Mütze ab, ziehe den Mantel aus, setze mich an den Küchentisch.
«Ich habe Morphin», sagt
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