Morphin
Kaliber sechs, elf kleine Tode, wenn man aus der Nähe trifft, und ich bin Konstanty Willemann, Sohn des Grafen von Strachwitz und der verrückten Katarzyna Willemann, die angeblich seit sieben Jahren nicht geschlafen hat, wie Stach aus Warta kurz vor dem Krieg behauptete, als wir mittags zu Simon gingen, denn meine Mutter hatte ihn unbedingt kennenlernen wollen, also habe ich sie bekannt gemacht, aber er war ein Irrer. Er behauptete jedenfalls, meine Mutter stehe nicht von ihrem Sessel auf, schlafe nicht, scheide nicht aus – ja, so redete er über die Darmtätigkeit meiner Mutter – denn sie esse nicht und trinke nicht, rauche nur ihre Zigaretten und ihre Kräuter und habe sich das Geheimwissen der indischen Yogis angeeignet, deshalb sitze sie da, rauche und denke an Polen oder – wie Stach sagte – denke Polen.
Und ich bin ihr Sohn, bin aus ihrem Schoß geboren, aus dem Schoß der wahnsinnigen, alten Katarzyna Willemann. Und trage eine Damenpistole in der Tasche und werde mir damit zurückholen, was ich verloren habe.
Aber jetzt ist Polizeistunde, und die Gegend wimmelt von Deutschen. Ich gehe raschen Schritts in die Sieleckie-Siedlung, versteckte mich irgendwo zwischen den Häuschen, den kleinen Mietshäusern und Gemüsegärten, nicht weit entfernt wurde um Warschau gekämpft, und genau hier wurde Warschau verloren. Aber es wird weitergekämpft, die Waffe ist in der Tasche. Schließlich bleibe ich stehen, verberge mich in einem Hauseingang, um meinen weiteren Plan zu überdenken.
In die Leszno, die Stadtmitte, da wäre die ganze Stadt zu durchqueren. Polizeistunde, zu großes Risiko, und mit einer Waffe in der Tasche riskiere ich die Erschießung. Nach Hause ist es nicht weit, einen Kilometer vielleicht, aber heute kann ich nicht nach Hause zurück. Was tun? Ich werde schließlich nicht die Nacht hier im Hauseingang verbringen, auch nicht bei den Schwestern, die ich rasch und beschämt verlassen habe, also was tun? Vor mir ein verbogenes Schild: Rasieren fünfundzwanzig, Haareschneiden fünfzig. Wo ist das hin, das Rasieren und Haareschneiden? Wie einsam bin ich in der Stadt, die man mir weggenommen hat?
Konstanty, armer, willenloser Konstanty. Hilfloser Konstanty. Entehrter.
Ich weiß noch, mein Junge, wie du das erste Mal nach Warschau fuhrst, mit deiner fünfzigjährigen Mutter, du kamst in einem dunklen, zu engen Anzug, und ihr habt den Akzent und das kräftige «r» geübt, um nicht wie Deutsche zu reden. Kordegarda. Król Karol kupił królowej Karolinie korale koloru koralowego. Dein Vater lebte nicht mehr, du warst also kein Deutscher mehr, du heißt Strachwitz, bist ein Pole und trägst meinen Namen, der zwar deutsch klingt, aber ein polnischer Name ist, weil ihn eine Polin trägt und ein kleiner Pole – du, Konstanty. Sie sprach zu dir und war deine ganze Welt, so groß, mager, streng und unendlich klug, und du warst damals ein intelligentes Kind, hast also vielleicht erwartet, dass ihre Klugheit dir irgendwann einmal geringer vorkommen würde, wenn du größer wärst?
Aber das geschah nicht, die Klugheit und der Wahn deiner siebzigjährigen Mutter, des mit ihrem Sessel verwachsenen Indianerhäuptlings, sie macht dich noch immer zu einem zehnjährigen kleinen Jungen, lächerlich schwach, dumm, ihr ganz ausgeliefert.
Genauso bist du jetzt, mein armer Kostek, wie du in diesem Hauseingang stehst und nicht weiterweißt. Ich spüre deine Angst, wenn du nüchtern wirst, wenn das Opium langsam in deinem Körper vergeht und du ein Stück Wahrheit über dich wiederfindest, mein Lieber, jetzt verstehst du. Mit der kleinen Pistole in der Westentasche, schwach und willenlos. Hast du schon vergessen? Den ganzen September hast du dich unter der faulig-grünen Uniform, unter deiner Vierecksmütze und dem französischen Helm versteckt, da konntest du es vielleicht vergessen.
Komm mit mir, mein Engel, komm, ich werde dich führen.
Komm.
Du hast Tränen in den Augen, Junge, also komm, Kostuś, komm. Komm in die Czerniakowska. Keine Angst, Kostuś. Ich werde dich führen.
Er wischt die Tränen ab, zieht die Nase hoch wie ein kleiner, kleiner Junge, also gehen wir aus, ich führe ihn, ziehe ihn fast, wir gehen zur Weichsel, leere Straßen, so gut wie kein Licht, dunkel, Kostek hat sogar die Waffe in seiner Westentasche vergessen, er geht, denkt an nichts, vertraut mir.
Wir erreichen die Czerniakowska. Hier werden wir warten, Kostuś.
Also warten wir. Er steht da, vertraut mir, bedingungslos.
Er
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