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Morphin

Morphin

Titel: Morphin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Szczepan Twardoch
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dein Schicksal und dein Leben rufen an, du musst abheben. Konstanty, steh auf.
    Die dunkle Substanz windet sich durch Konstantys Gedärme, vertausendfacht sich in den Lungenbläschen, sickert ins Blut, füllt den After, klemmt sich zwischen Backen und Schenkel, umhüllt Konstanty von außen und durchdringt ihn innen.
    Das Telefon klingelt.
    «Konstanty, Telefon», sagt Hela.
    Ich öffne die Augen. Habe die Augen geöffnet.
    «Geh, heb ab, bitte. Das muss was Wichtiges sein.» Helas Stimme im Dunkeln, wie eine Prophezeiung.
    Ich stehe auf. Durch die kalte Wohnung ans Telefon.
    «Hallo», flüstere ich mit matter Stimme in den Hörer, ich habe kein Licht angemacht, wische mir Dunkelheit aus den Augen.
    «Hier spricht Siebenunddreißig», sagt die Stimme von Stefan Witkowski, ich erkenne sie sofort.
    «Wer?»
    «Siebenunddreißig», wiederholt Witkowski.
    Ich brumme etwas zur Antwort.
    «Bitte kommen Sie heute um elf in die Ziemiańska. Sie hat wieder geöffnet. Punkt elf.»
    «Heute?», frage ich, noch nicht richtig da.
    «Ja, ja.»
    Es knackt. Er hat aufgelegt. Ich schaue auf die Uhr, vier in der Früh. Gott.
    Alles ist zurück, alles und nichts. Ich lege mich wieder hin, schlafe aber nicht mehr ein, freunde mich mit der Zimmerdecke an, bis ein paar Stunden später am Morgen Jureczek zu unserem Bett gelaufen kommt, ganz mit Schokolade verschmiert.
    «Aufgegessen!», sagt er stolz.
    Ein paar Viertelstunden lang ist es, wie es sein soll, mein einziger, erster und letzter Sohn, meine Frau, ich, die Bettdecke, sein Gesichtchen mit den letzten Schokoladenresten. Witze, Balgereien, Gekitzel.
    Das ist meine erste Erinnerung: Meine Mutter beteiligte sich nicht an derartigen Späßen. Sie kämmte sich die Haare vor dem Spiegeltisch, mit einer Bürste aus ganz feinen Borsten, über die ich für mein Leben gern strich, auch wenn ich getadelt wurde, wenn sie mich erwischte. Mein Vater im karierten Schlafanzug – zwanzigjährig, jetzt weiß ich das, damals nicht – und ich im Ehebett meiner Eltern, der Vater kitzelt mich, ich rufe auf Deutsch: «Nein, Vati, hör auf, Vati, es reicht, kitzle mich nicht!», und wir beide lachen, welches Jahr mag das gewesen sein? Der Krieg war noch nicht erblüht, aber die Vögel sangen schon, und die Bäume trugen Blätter, das heißt, auch der Krieg keimte schon, wovon ich nichts und mein Vater vermutlich nur wenig wusste, aber das wenige stimmte ihn fröhlich und ließ ihn den schweren Säbel schärfen, ich sehe den asymmetrischen Bogen durch die Tür, mein Vater stützt die Säbelspitze auf einen Hocker, der Wetzstein gleitet mit nassem Knirschen die Klinge nach unten, immer wieder, dann prüft Vater die Schneide gegen das Fensterlicht.
    Und jetzt ich, mein Sohn und Hela, die kalte Wohnung, Mauern aus Schokolade und Wärme unter der Decke, und für einen Augenblick ist alles, wie es sein sollte, kein Krieg, kein verlorenes Leben, Leben von fremden Gnaden, kein überflüssiger Leutnant, der nie auf den Feind geschossen, aber dafür einen Menschen ermordet und ihm das Auge ausgestochen hat. Das alles gibt es jetzt nicht.
    Jureczek und ich kitzeln uns und lachen miteinander, aber ich stelle mir diese Frage: Wie bringe ich das fertig? Durch welche Kraft verschiebt jetzt dieselbe Hand, die Kajetan Tumanowicz das Auge ausgeschält hat, die dünne Haut auf den mageren Rippen meines Sohnes, und er windet sich vor Lachen, Tumanowicz dagegen wand sich vor unnennbarem Schmerz.
    Wer hat Kajetan Tumanowicz das Auge herausgeschält, Kostek, warst du das oder jemand anders, Kostek?
    Dann das Frühstück, Brot mit einem Rest Butter, Kaffee. Ich schaue sie wieder an. Hela, Jureczek. Ich bin ein anderer Mensch. Nicht der.
    Dann gehe ich in die Ziemiańska.
    Und doch nicht in die Ziemiańska.
    Ich verlasse das Schokoladenhaus vor zehn, will früher in der Ziemiańska sein, es sind vier Kilometer Spaziergang. Ich gehe die Marszałkowska, die Häuser stehen da, wie sie standen, jemand flickt die Bürgersteige, jemand verblendet die Fensterhöhlen mit Sperrholz.
    Ängstlich von der irrationalen Vorstellung, der Ingenieur könnte mich vom Fenster aus sehen, gehe ich am Erlöserplatz vorbei und weiter, und bei Gott, an den ich nicht glaube, und bei allen Göttern, an die ich auch nicht glaube, ich bin schon an diese Warschauer Straße gewöhnt – die neue Straße, die nach der Niederlage.
    Zwei Wochen, und ich habe mich daran gewöhnt. Keine grünen Uniformen und runden Krägen der Chevaulegers mehr zu sehen,

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