Morphogenesis
Byron.
»Na, und?«
»Du warst wirklich lange weg.« Er betrachte seine Hände, während ihm das Reden nach wie vor schwer zu fallen schien. »Nun ja, ich habe dafür gesorgt, dass du nicht so schnell wieder wach wurdest. Entschuldige daher die Kopfschmerzen. Vielleicht hätte ich deinen Schädel über die Klippe werfen sollen, anstatt ihn nur zu Mus zu schlagen. Ich wollte wissen, ob es wirklich einen Ausgang aus dem Inferno gibt, und ich wollte ihn finden. Für mich, allein …«
»Das wundert mich nicht mehr. Und? Hast du ihn gefunden?«
Byron nickte, schüttelte im gleichen Moment den Kopf, dann schluckte er schwer. »Ich habe etwas gefunden, ja.«
»Warum bist du dann zurückgekehrt? Hat dich das schlechte Gewissen überwältigt?«
»Ohne Hexonnox gibt es kein Weiterkommen.«
Ich glaubte, mich verhört zu haben. »Du hast die Noxe verloren?«
»Sie muss während unserer Prügelei ins Wasser gefallen sein. Wahrscheinlich hat die Strömung sie über die Klippe gespült …«
Ich schloss für einen Moment die Augen. Byron wandte sich ab und begann damit, eine noch grüne Rasenstelle von Grashalmen zu befreien. Ich sah ihm zu, wie er wie eine stumpfsinnige Maschine die Wiese rodete, dann wandte ich meinen Blick ratlos ab und musterte den Horizont. Wieso war er dann trotzdem in den Nebel gelaufen? Und was in aller Welt hatte Byron dort entdeckt, das ihn dermaßen resignieren ließ? Ihn, einen Kerl wie einen Baum, der hier so vielen Schrecken begegnet war, dass ihn doch eigentlich nichts mehr erschüttern sollte. Nun hockte er vor mir wie ein ungezogener Junge, der seine Strafe dafür erhalten hatte, dass er dort gewesen war.
Lag es vielleicht doch nicht am Wasser, wie Byron behauptet hatte? Hatte er erfahren müssen, dass er mich umsonst vor dem Sprung in die Tiefe bewahrt hatte? Dass alles, was wir unternommen hatten, sinnlos gewesen und der Limbus nur eine Farce war, eine endgültige Barriere, die lediglich in sich selbst verschwand?
»Was befindet sich im Nebel?«, fragte ich. »Gibt es einen Ausgang, oder dürfen wir nun beide von der Klippe springen?«
»Geh und sieh selbst«, murmelte Byron. »Folge dem Wasser zum Horizont, ich warte hier auf dich.«
Byron sah mir nicht nach, als ich aufbrach. Ich ging zurück bis zum Fluss, folgte der Sandbank und begann schließlich durch die knietiefen Fluten flussaufwärts zu waten. Ab und zu warf ich dabei einen Blick zurück, um die Perspektive zu kontrollieren, doch die Naturgesetze schienen innerhalb des Gewässers tatsächlich Geltung zu behalten. Byron wurde kleiner und kleiner und war schließlich nur noch ein unscheinbarer Punkt in der Ferne.
Ich schritt zügig voran, einerseits erleichtert, nicht in eine weitere Täuschung hineinzumarschieren, andererseits beunruhigt darüber, was mich am Horizont erwarten mochte. Der Flusslauf wurde unmerklich schmaler, indes die Uferböschung auf beiden Seiten beständig steiler wurde und zu einer Schlucht von etwa zwanzig Metern Höhe anwuchs. Felsen und Geröll hatten das Grasland verdrängt, und der immer dichter werdende Nebel lag kalt und klamm auf der Haut. Bald reichte mein Blick kaum mehr fünf Schritte weit. Ein bizarrer Schatten tauchte aus dem Dunst auf, aber es war nur ein knorriger Baum, der auf einer winzigen Insel inmitten des Flusses stand. Irgendwann war der Nebel so dicht geworden, dass ich mir vorkam wie in einer chinesischen Wäscherei. Ein weiterer Schatten erschien vor mir, doch diesmal gehörte er nicht zu einem Baum, sondern zu einem Menschen, der sich bedächtig näherte. Ich blieb wie festgewachsen stehen, als ich ihn sah, vorauf der Schemen ebenfalls verharrte. Er mochte gerade mal zehn oder fünfzehn Schritte von mir entfernt sein, doch ich konnte im Nebel sein Gesicht nicht erkennen. Er war nur ein verwaschener grauer Umriss, der regungslos auf der Stelle stand. Vorsichtig näherte ich mich dem Fremden, worauf sich auch dieser sich wieder zu bewegen begann.
»Hallo?«, rief ich. Meine Stimme klang, als spräche ich mit einem dicken Sack über dem Kopf. »Wer sind Sie?«
Der Schatten antwortete nicht. Schweigend schritt er ebenso zögerlich auf mich zu wie ich mich auf ihn. Als ich der Erscheinung schließlich gegenüberstand, stockte mir fast das Herz – denn der gespenstische Fremde trug meine Gesichtszüge! Allerdings hatte ich das Gefühl, als blickte ich in einen Zerrspiegel. Das Antlitz meines Gegenübers glich einer furchtbaren Karikatur meines eigenen Gesichtes, einer
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