Mortal Kiss Wem gehört dein Herz?
und warum. Er brauchte einige Anläufe, aber es gelang ihm mit jedem Mal, die Augen länger offen zu halten. Zwar konnte er noch immer nichts Genaues erkennen, er versuchte aber, sich umzusehen.
Alles war weiß, steril wie ein Krankenhauszimmer. Kühl war es auch, beinahe kalt. Fröstelnd blickte Lucas an sich herab. Er trug Jeans und sein David-Bowie-Shirt und entsann sich, beides für den letzten Schultag angezogen zu haben. Aber dann …
Er erinnerte sich nicht, was dann geschehen war, doch dieJeans war am Knie zerrissen, und mit Mühe erkannte er steife, nach Blut aussehende Schmierflecken auf dem T-Shirt. Was auch passiert war, allzu spaßig konnte es wohl nicht gewesen sein.
Vom anderen Ende des Raums drang ein Geräusch zu ihm. Lucas erstarrte und lauschte mit immer schnellerem Puls. War noch jemand mit ihm hier drin? Oder noch etwas ?
Er wandte langsam den Kopf und musterte die Ränder des grellweißen Raums. Seine Augen tränten, und er verstand noch immer nicht recht, was er sah. Alles war verschwommen und unklar, als versuchte er, etwas durch Wasser hindurch zu erkennen.
Eine dunkle Masse unterbrach das Weiß. Sie lag in der Ecke. Lucas versuchte, sie schärfer in den Blick zu bekommen, spürte, dass er herausfinden sollte, worum es sich handelte. Die Masse bewegte sich, kam aber nicht auf ihn zu.
Eine Erinnerung stellte sich ein. Eine Erinnerung an die Stimme eines Mädchens.
»Faye?«, fragte Lucas krächzend. »Faye … «
Plötzlich fühlte er sich sehr, sehr müde.
Er schlief ein.
*
Finn saß mit angezogenen Knien und noch immer hinterm Rücken gefesselten Armen an der Zellenwand. Er wusste nicht, seit wann Faye verschwunden war. Zeit war bedeutungslos geworden.
Lucas wurde allmählich immer wacher. Finn hatte dagesessen und seinen Halbbruder reglos beobachtet, als der sich unruhig hin und her bewegte. Anfangs hatte er das nur ganz kurz getan, bald immer länger. Irgendwann hatte er sprechen können. Und die ersten Worte, die Lucas nach Tagen aussprach, hatten Faye gegolten.
Finn hatte nicht geantwortet, nicht beim ersten Mal und auch später nicht, obwohl Lucas nun so weit bei Bewusstsein war, um zu begreifen, dass Finn mit ihm in der Kammer saß, nicht Faye.
Kaum hatte Lucas das erkannt, wurde er panisch und wollte, dass Finn mit ihm redete. Er sollte ihm erzählen, was geschehen war und wo Faye sich aufhielt.
Finn hatte nicht geantwortet. Ihm war es lieber, wenn Lucas bewusstlos war. Ob wach oder schlafend, er konnte Faye nicht helfen. Also hatte Finn keinen Grund, ihn sich wach zu wünschen, hatte keinen Grund, überhaupt noch etwas zu wollen. Es schien auf nichts mehr anzukommen.
»Finn … «
Lucas war wieder wach, doch Finn sah nicht auf.
»Finn … Mensch … Du kannst doch nicht immer bloß so dasitzen.«
Seine Stimme war kaum zu hören. Es war leicht, ihn zu ignorieren.
Und doch wünschte Finn, Lucas würde einfach die Klappe halten. Er ließ langsam die Schultern kreisen – das Äußerste an Bewegung, was er seit Stunden hinbekommen hatte – , beugte sich vor, bis die Stirn an den Knien lag, und schloss die Augen. In seinem Kopf gab es nichts als Faye.
Warum hatte er nicht besser auf sie achtgegeben? Warum hatte er sie nicht besser geliebt ? Wie hatte er glauben können, sie würde Lucas mehr mögen als ihn? Nach allem, was sie gemeinsam durchgemacht hatten, allem, was sie zu opfern bereit gewesen war? Wie konnte etwas so Bedeutungsloses wie Eifersucht zwischen sie treten? Sie war seine zweite Chance gewesen, und er hatte sie zwischen den Fingern hindurchschlüpfen lassen …
»Finn«, erklang Lucas’ Stimme erneut. »Ich weiß nicht, was hier los ist, aber es muss schlimm sein. Faye war hier, oder? Wo ist sie?«
Schweigen.
Lucas hustete. Sprechen fiel ihm offenbar schwer, aber er schien nicht geneigt, damit aufzuhören.
»Los, Finn. Du kannst nicht einfach dasitzen und stumm bleiben. Erzähl mir, was passiert ist. Sag mir, wo wir sind.« Es klirrte, weil Lucas an den Fesseln zerrte, die seine Arme an den Stuhl banden. »Du bist stärker, Finn. Schaff mich hier raus. Ich helf dir … ich helf dir, sie zu finden.«
Finn spürte eine Regung in seinem Herzen und begriff, dass es Wut war. Reine, unverfälschte Wut. Sie tobte in ihm, stark genug, um den Wolf zu wecken, wenn das Silber das Tier nicht ferngehalten hätte.
Er war zornig auf Koskay, und auf die schwachen Menschen dieser Stadt, die ihm ihre Seelen geopfert hatten, sodass er erstarken konnte.
Und er war
Weitere Kostenlose Bücher