Mortal Kiss
alle, die mit mir kommen wollten, von dem Fluch zu befreien .« Er seufzte. »Wir wussten, dass es schwer würde, aber wir hatten uns so nach Freiheit und danach gesehnt, unser Leben weitestmöglich in die eigenen Hände zu nehmen, obwohl Mercy uns zu ihren Kreaturen gemacht hatte. Und wir hatten uns gewünscht, Unschuldigen nichts Schlimmes mehr zuzufügen .«
Ein kalter Schauer lief Faye das Rückgrat hinunter. »Was haben Sie ihnen gegeben ?« , fragte sie und musterte dabei Joes Gesicht. »Was haben Sie Annwn überlassen ?«
Joe lächelte grimmig. »Mercys gesamte Verwandtschaft « , sagte er leise. »Ich habe eine ihrer Vereinbarungen mit Annwn nur ein wenig verändert, und schon haben sich die bösen Geister so viele von ihrer Familie geschnappt, wie sie konnten, und sie hinab nach Annwn verschleppt. Ich habe mich verborgen und sie schreien hören. Es war das entsetzlichste Gebrüll, das man sich denken kann. Nur Mercy hat überlebt. Und zur Belohnung hat Annwn mich von ihrer Macht befreit. Doch mein Werwolf-Dasein bin ich auf diese Weise nicht losgeworden. So wenig wie alle meine Verwandten .«
»Dann ist Mercy die letzte noch lebende Vertreterin ihrer Art ?« , fragte Faye.
»Ja « , sagte diesmal Finn, und die Flammen warfen lange Schatten über sein Gesicht. »Aber sie ist entschlossen, ihre Familie zurückzugewinnen .«
»Sie versucht es jedenfalls immerfort « , pflichtete Joe ihm bei. »Immer wieder heckt sie neue Vereinbarungen mit Annwn aus. Deshalb folgen wir ihr, wohin sie auch geht, um möglichst viele Unschuldige zu retten .«
»Eines Tages finden wir einen Weg, ihr ein für alle Mal das Handwerk zu legen « , murmelte Finn.
»Ja « , sagte Joe ernst. »Und dieser Tag ist nah. Sie plant etwas … etwas Größeres als je zuvor. Wir müssen sie aufhalten, oder wir alle müssen dafür zahlen .«
KAPITEL 37
Gefangen im Spiegel
L ucas musterte die Handabdrücke auf dem Spiegel und erkannte mit kaltem Schrecken, dass sie von innen ans Glas gepresst waren, nicht von außen. Sie waren zu groß, um von Mercy stammen zu können. Viel wahrscheinlicher waren es Ballards. Doch der war nirgendwo zu entdecken. Das Zimmer war leer und das Haus, vom Prasseln des Kaminfeuers abgesehen, vollkommen still.
Er trat näher an den Spiegel und sah hinein. Einen Moment lang hatte er das Gefühl, aus großer Höhe zu stürzen, tief und immer tiefer in den Raum jenseits des Glases. Um nicht das Gleichgewicht zu verlieren, griff er mit beiden Händen nach dem alten Rahmen. Die Kälte des Metalls riss ihn wieder auf die Erde zurück, und er blinzelte verwirrt. Am Rand des Spiegels sah er etwas spinnengleich dahinhuschen. Eine Bewegung, die ihm Gänsehaut verursachte.
Plötzlich war Ballards Gesicht vor ihm. Bestürzt sprang Lucas zurück. Ballard war im Spiegel. Sein Blick war böse, zugleich aber entsetzt. Er sah nach links und rechts und suchte nach etwas.
»Hilf mir !« , flehte er mit seltsam ferner Stimme und blickte Lucas nun in die Augen. »Bitte. Lass mich raus. Lass mich raus !«
»Das will ich nicht und kann es auch nicht « , stammelte Lucas zitternd.
»Bitte !« , flehte Ballard erneut. »Es ist so kalt, so kalt! Ich habe meine Lektion gelernt. Ich bin schon so lange hier drin, zu lange. Es fühlt sich an wie eine Ewigkeit .«
»Ballard « , erwiderte Lucas und versuchte, seine Angst abzuschütteln, »ich weiß nicht, wie ich dir helfen kann. Ich weiß nicht, was vorgeht .«
»Mercy « , flüsterte Ballard, und seine Gestalt begann zu verschwimmen. »Mylady kann mir helfen. Sie kann mich befreien. Bitte! Es ist kalt. So … «
Seine Worte gingen in einen gespenstischen Schrei über, der Mund öffnete sich vor Angst weit. Lucas taumelte rückwärts, als im Spiegelhintergrund ein knorriger Arm aus der Schwärze zum Vorschein kam. Die knochigen Finger packten Ballard, der wie am Spieß schrie, während er sich dem Griff zu entwinden suchte.
Lucas sah entsetzt mit an, wie der Arm Ballard in die tiefsten Tiefen des Spiegels zerrte, in eine konturlose, wirbelnde Leere. Ballard schrumpfte, bis er nur noch eine winzige, sich krümmende Gestalt war. Und dann war er mit einem letzten, hallenden Schrei verschwunden.
Lucas stand schwer atmend da und starrte in den leeren Spiegel, aus dem ihm nun sein zitterndes Gesicht bleich und mit weit aufgerissenen Augen entgegensah.
Dann fasste er einen Entschluss. Egal, was seine Mutter war und was sie getan hatte … er musste es erfahren. Lucas wusste nicht, wann
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