Mortal Kiss
sie zurückkehren würde, aber im Moment war das Haus leer. Wenn er handeln sollte, dann jetzt.
Die Tür zum Schlafzimmer seiner Mutter war nicht abgesperrt. Das wusste er. Mercy schloss nie ab. Sie hielt das nicht für nötig, und bis jetzt wäre Lucas nicht mal im Traum auf die Idee gekommen, die Privaträume seiner Mutter zu durchwühlen. Nun aber waren Wut und ein verzweifelter Wille, zu erfahren, was hier vor sich ging, an die Stelle seiner Angst getreten. Lucas war mit einem Mal klar, dass er der Wahrheit über sein Leben nie so nahe gewesen war. Das ständige Reisen von Ort zu Ort, die vielen seltsamen Begleiter, das unaufhörlich sprudelnde Geld, das Mercy gar nicht zu erwerben schien …
Er drückte die Tür auf. Das Zimmer seiner Mutter war opulent eingerichtet und mit prächtigen Farben und teuren Stoffen geschmückt. Auf dem riesigen Himmelbett und auf dem Boden lagen echt aussehende Pelze.
In der Fensternische stand ein alter Schreibtisch, noch ein Möbelstück, an das Lucas sich aus der Kindheit erinnerte. Wie der Spiegel hatte er sie auf allen Reisen begleitet, doch Lucas entsann sich nicht, ihn je geöffnet zu haben. Die große Tischplatte bestand aus kräftig gemasertem Holz. Darunter befanden sich vier Schubladen mit verzierten, wenn auch abgenutzten Griffen. Lucas probierte sie nacheinander, doch alle waren abgeschlossen.
Er stöberte in den Papieren auf dem Tisch, fand aber keinen Schlüssel. An der Wand gegenüber stand der Schminktisch seiner Mutter. Lucas brauchte eine Nagelfeile, und von denen hatte Mercy sicher mehrere.
Er schob das dünne Metallblatt ins erste Schloss und drehte es kraftvoll. Die Zunge gab mit leisem Klicken nach, und die Lade sprang auf. Er zog sie heraus und sichtete, was seine Mutter weggesperrt hatte: anscheinend nur ein paar getrocknete Blumen, eine Locke und zwei alte Bücher. Lucas blätterte sie rasch durch, fand aber nichts Interessantes darin. Sie waren alt, brüchig und eher schlecht in einer ihm unbekannten Sprache gedruckt. Und jemand hatte sie auf dem Vorsatzpapier signiert. Er wandte sich der zweiten Lade zu, in der er auf Ähnliches stieß, dann der dritten.
Dort entdeckte er einen alten, vergilbten Umschlag voller Fotos, zog sie heraus, ließ sich auf der Kante des Schreibtischstuhls nieder und legte eins neben das andere auf die Platte. Alle Aufnahmen waren alt, einige wirkten wie aus den Kindertagen der Fotografie. Die Menschen auf den Bildern trugen herrlich geschneiderte Kleider und Anzüge, Fliegen und Zylinder. Einige Abzüge waren so unscharf, dass sich die Gesichter kaum erkennen ließen. Lucas beugte sich vor und ließ den Blick über die bräunlichen Aufnahmen schweifen. Ob das Verwandte von ihm waren? Eine Art fotografierter Familienstammbaum? Dann ging ihm etwas auf …
Er hätte schwören können, dass seine Mutter auf jedem Bild zu sehen war.
Ihr Gesicht blickte heiter aus allen Aufnahmen. Mal war sie mit nur einer weiteren Person zu sehen, meist mit einem gut aussehenden Mann, mal mit einer Gruppe von Leuten abgebildet, die sie stets bewundernd anschauten.
Lucas lehnte sich mit klopfendem Herzen und heftig arbeitendem Verstand zurück. Wie konnten diese alten Fotos seine Mutter zeigen, die doch unmöglich älter als vierzig war? Auf jedem Bild sah sie genau gleich aus. Das war einfach unmöglich. Und warum besaß sie diese Aufnahmen überhaupt? Er dachte an das zerknitterte Bild von Faye, das er in der alten Bikerjacke gefunden hatte.
»Das müssen Fälschungen sein « , sagte Lucas halblaut zu sich. »Spielereien mit Photoshop. Vielleicht stammen sie von einem Volksfest, auf dem man sich verkleiden kann .«
Doch schon als er das sagte, glaubte er nicht daran. Jedes Bild hatte etwas erschreckend Wirkliches … von den verblichenen Farben bis zu den ausgefransten, eselsohrigen Rändern. Er zog noch ein Foto heraus und hielt es ins Licht. Seine Mutter befand sich im Hintergrund, und in ihrem harten, aber wunderschönen Gesicht stand ein kaltes, starres Lächeln. Doch nicht sie hatte seine Aufmerksamkeit erregt. Neben ihr stand ruhig und ebenso schön ein weiteres Mädchen. Er hatte sie schon oft gesehen und noch öfter an sie gedacht …
Es war Faye McCarron. Sie musste es sein, eine andere kam nicht infrage. Doch auch sie war in alte Gewänder gehüllt und trug einen hochgeschlossenen Spitzenkragen und ein dunkles, bodenlanges Kleid, und die Aufnahme war so alt wie die anderen. Und sie stand da mit seiner Mutter.
Lucas sah das Bild
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