Mortimer & Miss Molly
Pienza zu fahren und dort in schöner Zweisamkeit Pizza zu essen. Aber da winkte ihnen Antonio, der schon mit einer ganzen Gruppe von fröhlichen Freunden an einem der langen Tische saß. Ihr werdet doch jetzt nicht davonlaufen, rief er, wo erst die richtig guten Sachen auf den Tisch kommen und wo so viele Menschen guten Willens beisammen sind! Kommt, setzt euch zu uns, wir sind lauter Menschen guten Willens, wenn alle so guten Willens wären wie wir, dann hätten sie die Atomwaffen in Ost und West längst verschrottet, und es gäbe nichts als ewigen Weltfrieden.
Und Antonio stellte Marco und Julia seine Freunde vor. Luigi und seine Frau Lisa, Mario und seine Freundin Maria sowie Carlo, den überzeugten Junggesellen, für den man aber vielleicht doch noch einmal die Richtige finden würde. Und die Männer waren alle miteinander in die Schule gegangen, ein guter Jahrgang, sagte er, 1933. Auch wenn das damals schlechte Zeiten gewesen seien, ihre Kindheit und Jugend, erst der Faschismus, dann die deutsche Besatzung, dann die Bomben und nachher die arme Zeit nach dem Krieg, aber sie haben immer zusammengehalten wie Pech und Schwefel, sie haben sich nicht unterkriegen lassen, und das sei vielleicht das Wichtigste.
Und man saß unter einem Wimpel, auf den die Friedenstaube von Picasso gedruckt war. Und es waren wirklich lauter liebe und friedliche Menschen, die da beisammensaßen. Und sie aßen und tranken und unterhielten sich und scherzten und vertrugen sich gut. Aber später am Abend kam die Sprache darauf, warum der historische Kompromiss gescheitert war, und da wären sie einander beinah in die Haare geraten.
Waren die Radikalen daran schuld oder die Revisionisten, die mit den Sozialdemokraten kokettierten? Oder hatten mit allen reaktionären Wassern gewaschene Machtpolitiker ohnehin nur ihr hinterlistiges Spiel mit den naiven Linken getrieben, die allen Ernstes geglaubt hatten, als erste eurokommunistische Partei in die Regierung zu kommen? Und auf die
Brigate Rosse
, die Roten Brigaden, die den christlich-sozialen Parteichef Aldo Moro entführt und erschossen hatten, kam die immer aufgeregtere Rede. Und auf die Neofaschisten, die den Zug im Bahnhof von Bologna in die Luft gejagt hatten und nun angeblich von der Justiz gedeckt wurden.
Marco machte den Simultanübersetzer für Julia, aber wenn er sich selbst in die Diskussion einmischte, und das tat er manchmal mit vor Erregung zitternder Stimme, verstand sie fast nichts mehr. Und das war dann natürlich umso beunruhigender. Gewiss hatte sie von manchen Ereignissen, die hier zur Sprache kamen, auch jenseits der Alpen schon gehört und gelesen, aber da war ihr das alles immer recht fern erschienen, sowohl räumlich als auch – merkwürdigerweise schon nach wenigen Wochen – zeitlich. Hier und jetzt wurde ihr bewusst, wie nah und gegenwärtig das war.
Doch dann gab es laute Musik auf der Tribüne, und da verstanden die Streitenden ihr eigenes Wort nicht mehr. Zuvor hatte die
banda
gespielt, im Großen und Ganzen Traditionelles, in einem zwar schrägen Ton, aber in gemäßigter Lautstärke. Nun aber war eine Gruppe aus Neapel auf dem Podium, die hatte zuerst nur eine Serie von Rückkopplungen zustande gebracht, jetzt aber legte sie los. Und sie spielten
I Can
’
t Get No Satisfaction
, und obwohl die Nummer, von ihnen interpretiert, nicht ganz so authentisch klang wie von den Stones, bekamen sie viel Applaus.
23
Ende August änderte sich das Wetter und eine gewisse Unruhe, die Julia schon seit einiger Zeit an Marco bemerkt hatte, nahm zu. Was hast du?, fragte sie ihn. Er habe von seiner Mutter geträumt, sagte er. Das war es also. So etwas hatte sie befürchtet. Obwohl sie bis dahin nicht viel darüber geredet hatten, hatte sie mitbekommen, dass Marcos Beziehung zu seiner Mutter heikel war.
Es war ihr schon aufgefallen, als sie Marco zum ersten Mal mit seiner Mamma telefonieren gehört hatte. Als sie ihn nicht nur telefonieren
gehört
, sondern auch
gesehen
hatte, nämlich durch die offene Tür der Telefonzelle im
Caffè Italiano
. Natürlich konnte man diese Tür auch schließen, und das hatte er vorerst sogar mit einem gewissen Nachdruck getan. Aber dort drin war es heiß und stickig, und binnen kurzem war Marco der Schweiß von der schon damals recht hohen Stirn geronnen.
Nicht dass sie ihn beobachtet oder belauscht hätte, im Gegenteil, sie versuchte diskret woandershin zu sehen und zu hören. Ging wieder hinaus in den Hof, beobachtete die Schildkröten
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