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Mortimer & Miss Molly

Mortimer & Miss Molly

Titel: Mortimer & Miss Molly Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Heinisch
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steileren Abhängen. Unten dunkelgrün bewachsen, oben mit faltigen, von der Sonne gerösteten Kuppen. Eine schöne, wilde Gegend, in die nur wenige Wege führten und so gut wie keine von Militärfahrzeugen befahrbaren Straßen. Vielleicht das Rückzugsgebiet des Räubers, von dem Mortimer in der Osteria erzählt hatte.
    Marco und Julia waren zufällig dort hingekommen. Und überdies auf recht abenteuerlichen Umwegen. Die Ente schwankend, sodass Julia ein bisschen übel wurde. Doch sie hatte sich nichts anmerken lassen, um Marco, der einen verwegenen Slalom zwischen zahllosen Schlaglöchern fuhr, nicht abzulenken. Und dann waren sie an einer Stelle angelangt, an der die Straße einfach endete. Ohne Vorwarnung durch irgendwelche Verkehrszeichen.
È questa la fine del mondo
, ist das da das Ende der Welt?, hatte Marco sarkastisch gefragt. Aber nein: Von dort sah man hinunter auf den Fluss.
    Dieser Fluss mit seinen Windungen und Wendungen zwischen den Hügeln! Kehrte man ihm irgendwo in dieser schwer überschaubaren Gegend den Rücken, glaubte man, ihn längst hinter sich gelassen zu haben, so konnte es sein, dass man ihm weiter vorn wieder begegnete. Ein ganz eigenartiger Fluss, sympathisch in seiner Unberechenbarkeit. Von dort aus, vom Ende der holprigen Straße, auf der Marco dann ein Stück rückwärts manövrieren musste, bis er eine zum Umdrehen geeignete Stelle fand, hatten sie ihn also wieder einmal unversehens im Blick.
    Und da gab es ein Haus an der Flanke des Abhangs.
    Erinnerst du dich?, sagte Marco. Ein halb verfallenes Haus.
    Ja, sagte Julia. Dieses Haus ohne Dach.
    Daneben stand ein wahrscheinlich vom Blitz getroffener Baum.
    Sie gingen noch immer durch die Felder. Der Abend war nach wie vor lau.
    Was meinst du, sagte Marco, wie weit von hier mag das sein?
    Vielleicht zehn Kilometer, sagte Julia. Vielleicht mehr.
    Was denkst du: Wie lang würde man zu Fuß dorthin brauchen?
    Mortimer und Molly brauchten damals, im Juni 1944, die ganze Nacht. Marco und Julia gingen an diesem Abend im Juni 1982 nur ein Stück ihres mutmaßlichen Weges. Es war aber trotzdem ein tüchtiges Stück, das sie gingen. Als sie die Hügelkette erreicht hatten, die zwischen den Feldern und Weinbergen auf der einen Seite und dem Fluss auf der anderen Seite liegt, standen die Zeiger auf dem Leuchtzifferblatt von Marcos Taschenuhr schon auf halb eins.
    Da war es dann doch vernünftiger umzukehren. Es war deutlich kühler geworden, sie hatten den Weg spontan angetreten und waren nicht für einen Nachtmarsch gerüstet. Der Rückweg, der nun vor ihnen lag, würde ohnehin lang genug sein. Aber sie konnten sich die Strecke, die man zurücklegen musste, um zu jenem Haus zu gelangen, nun schon recht konkret vorstellen.
    Mortimer und Molly jedoch kehrten damals nicht um. Konnten nicht umkehren. Stapften weiter und weiter. Auch, als es eine Strecke steil bergauf ging und immer dunkler wurde, denn diese Seite der Hügelkette ist dicht bewachsen. Kleine, krumme Eichen, da und dort überragt von Pinien, überall stacheliges Gebüsch.
    Stapften weiter und weiter. Molly war tapfer. Sie war eine starke Frau, das hatte sich schon erwiesen. Und trotzdem – sie war doch bloß eine Gouvernante außer Dienst. Gewiss nicht so gut trainiert wie ein Amerikanischer GI.
    Sie hielt aber durch, Miss Molly, Julia war dessen sicher. Und wer weiß, ob Mortimer durchgehalten hätte ohne sie an seiner Seite. Trotz seines Trainings. Er wusste ja nicht, wohin. Sie jedoch hatte eine Intuition oder zumindest eine Ahnung.
    Vielleicht hatte sie ja schon von diesem Haus gehört, das da weit draußen an einem zum Fluss abfallenden Hang stand. Ein verlassenes Haus, wie es hieß, schon seit langem verlassen, vom Blitz beschädigt, nicht vom Krieg. Eine Familie hatte dort gewohnt, an die man sich kaum noch erinnern konnte in San Vito. Leute, die von irgendwo anders hergekommen waren und einen schwer verständlichen Dialekt gesprochen hatten, am ehesten Sarden.
    Die waren dann wieder weggezogen, das alles war sehr lang her. Und das Haus war stehen geblieben, wie es war, niemand wollte dort hinziehen. Erstens war es ja wirklich sehr weit draußen und zweitens, wer weiß ... Vielleicht zog es ja Blitze an, so etwas soll es geben.
    Es wurde sogar gemunkelt, dass es dort spukte. Zwar kam selten jemand vorbei, aber einige von denen, die doch vorbeigekommen waren, erzählten merkwürdige Geschichten. Von Fensterläden, die einmal offen waren und einmal geschlossen, von Wäsche, die

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