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Mortimer & Miss Molly

Mortimer & Miss Molly

Titel: Mortimer & Miss Molly Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Heinisch
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manchmal zum Trocknen an der Leine hing und sehr weiß im Wind flatterte. Obwohl doch dort seit Jahrzehnten niemand mehr wohnte.
    Dieses Haus also. Vielleicht hatten sie ja Glück und würden es finden. Aber zuerst einmal mussten sie über den Hügelkamm kommen. Bis sie das geschafft hatten, würde es wahrscheinlich ohnehin schon wieder hell werden. Und dann würden sie in das enge Tal hinunterschauen, durch das sich der Fluss schlängelte.
    Und wirklich: Sie fanden das Haus kurz nach Sonnenaufgang. Der Baum, der daneben stand, gespalten, was vom Dach übrig war, die Balken, angekohlt. Aber die Mauern, aus grauem Naturstein, standen noch. Immerhin: ein nach außen abgegrenztes Geviert. Darin konnte man sich vielleicht einrichten.
    Why not?
, sagte Mortimer. Ja, das könnten wir versuchen. Aus den Fugen zwischen den Stufen der kurzen Treppe, die zur Tür hinaufführte, wucherte Gras. Beherzt stieg er voraus; eine im Frühlicht glänzende Schlange floh vor seinen Stiefeln. Kein Grund zu erschrecken, sagte er. Schlangen, die nicht beißen, bringen Glück.
8
    Nicht weit hinter dem Haus begann der Wald, nicht weit unter dem Haus floss der Fluss. Der Wald war hier freundlicher, lichter als auf der anderen Seite, der Fluss floss in schönen, stellenweise von Ginstergebüsch gesäumten Mäandern. Vom Krieg war hier vorerst beinahe nichts zu bemerken. Nur wenn die Deutschen aus den großen Granatwerfern schossen, die sie in Radicofani aufgestellt hatten, auf jenem schroffen, auch aus der Ferne böse aussehenden Vulkanstumpf etwa zehn Kilometer südlich von San Vito, von dem aus schon die Raubritter im Spätmittelalter die nach Rom führende Straße überblickt und beherrscht hatten, hörte und spürte man die Detonationen bis hierher.
    Und natürlich hörte man die Flugzeuge, die versuchten, diese deutschen Stellungen wegzubomben. Aber von hier aus hörte sich das viel weiter entfernt an als aus San Vito. Wie ein Gewitter, das irgendwo anders vorbeizieht. Hier waren die beiden weit vom Schuss. Zumindest vorläufig.
    Im Schuppen fand Mortimer eine rostige Säge. Damit schnitt er oben im Wald Föhrenzweige. Dann kletterte er über den abgestorbenen Baum hinauf in den Dachstuhl. Und Molly sollte ihm Zweig für Zweig hinaufreichen, vorerst große und dann kleine, die er so zwischen den Dachbalken verflocht, dass man von unten, aus dem Geviert, nach und nach immer weniger vom Himmel sah, aber in einem angenehm grünen Licht stand.
    Das war eine Art von Dach über dem Kopf, natürlich. Aber es war auch eine gute Tarnung. Mortimer sah es mit dem Blick des Fliegers. Aus der Luft würde es aussehen wie ein grüner Fleck am Waldrand.
    Innen war es dann ein wenig wie in einem der Zelte, die sie als Kinder gebaut hatten, sowohl er als auch sie. Sie in einem Wäldchen nicht weit von Nottingham, mit ihrem großen Bruder, George hatte der geheißen, er mit einem Mädchen namens Prudie, das eine halbe Indianerin war oder zumindest so aussah, oben in Michigan, wo er die Ferienmonate verbrachte. Ihre Kindheiten lagen ein paar Jahre auseinander – seine war eine Kindheit der falschen Friedenszeit, die sich dann allzu bald als Zwischenkriegszeit erwies, ihre war eine der wirklichen Vorkriegszeit, jener inzwischen kaum mehr vorstellbaren Zeit vor 1914, als die Welt noch in sattem Frieden lag. Doch diese Erinnerung an eine etwas aufregende Geborgenheit unter einem Reisigdach hatten sie beide und es war, als ob sich die Altersdistanz zwischen ihnen dadurch fast bis zum Verschwinden verringerte.
    Und sie lächelten in gegenseitigem Einverständnis. Und fühlten sich beide jünger, als sie waren. Nicht nur sie, die sich hier draußen auf eine Weise spürte, lebendig fühlte wie eigentlich nie zuvor. Sondern auch er, in dessen Gesichts- und Körperausdruck nun etwas Bubenhaftes zum Vorschein oder zum Nachschein kam, das die Dressur zum Erwachsenen nicht ganz hatte tilgen können.
9
    Bis dahin war sie nicht in ihn verliebt gewesen. Nein. Wenn sie sich über ihre Gefühle für ihn Rechenschaft ablegen hätte wollen, dann ungefähr so: Zuerst war es wohl eine Art von Instinkt gewesen, ihm zu helfen, ihm Zuflucht zu geben, ihn zu beschützen und zu verbergen. Und dann hatte sie es als eine Art von Fügung verstanden, so als wäre er ihr nicht nur buchstäblich zugefallen, sondern auch von irgendeiner höheren Instanz zugeteilt worden – sie hatte Verantwortung für ihn und musste sie wahrnehmen.
    Ja, und dann, vor ihrer Fahrt nach Florenz, da hatte sie

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