Mortimer & Miss Molly
Erscheinung im
giardino
und von ihren seltenen Auftritten in der Via Dante, diesen Epiphanien als weiße Wolke, von denen er nichts ahnte. Und das war ja damals auch schon eine Weile her, dass sie sich zum letzten Mal so gezeigt hatte. Etwas zwischen Engel und grauer Maus war sie also vorerst für ihn gewesen, auf Gedanken erotischer Natur hatte ihn der erste Eindruck, den sie auf ihn machte, ganz sicher nicht gebracht.
Allerdings war da der Blick, mit dem sie ihn angeschaut hatte, als er in ihrem Badezimmer gestanden war, nackt und nass. Dieser Blick hatte ihn irritiert, er hatte nach dem Handtuch gegriffen und sich bedeckt. Im Mittleren Westen sind ja die Leute, auch wenn die Männer untereinander gern auf den Putz hauen, eher schamhaft. Dieser Blick, so intensiv und, ja, nachdenklich, gehörte sich nicht, schon gar nicht für eine graue Maus und erst recht nicht für einen Engel, aber danach, wieder bekleidet, wenn auch mit den etwas zu engen Klamotten des Gärtners, hatte er diesen Blick vorläufig vergessen.
Auch über Mollys Alter hatte er sich vorerst nicht den Kopf zerbrochen. Engel sind nicht nur geschlechts-, sondern auch alterslos. Erst dann, als sie einander nähergekommen waren, in der Nacht vor ihrer Abreise nach Florenz oder am Morgen danach, da hatte er sich gefragt ... Hätte sie seine Mutter sein können?
So what!
Viel innige Nähe war zwischen ihnen gewesen. Eine Nähe, wie er sie, ehrlich gestanden, nie zuvor erlebt hatte. Eine Nähe, in der sie zwar beide die Möglichkeit spürten, die nun, mit dieser Nacht, an ihnen vorüberging. Aber diese Möglichkeit würde, so wie es aussah, eben nie Wirklichkeit werden.
Das geschah ja erst, als Molly zurückkam. Damit hatte er nicht gerechnet. Oder doch? Warum war er auch in ihrer Abwesenheit im Mauerhaus geblieben, warum hatte er sich nicht endlich davongemacht? Er hatte Angst gehabt, zugegeben, der Schock, den er erlitten hatte, nachdem er abgeschossen worden war, saß ihm nach wie vor in den Knochen – aber war das wirklich alles?
Nur Angst, nicht auch Hoffnung? Wenn auch absurde Hoffnung? Nur Bequemlichkeit, weil er im gemachten Nest saß? Und das war ja, unter den gegebenen Umständen, ein höchst fragwürdiges Nest. Mit jedem weiteren Augenblick, den er zögerte, es zu verlassen, konnte es sich als Falle erweisen.
Aber er war geblieben. Und sie war zurückgekehrt.
Miss Molly. Sein Engel. Seine graue Maus. Seine mögliche Geliebte.
Und dann wurde die Möglichkeit eben Wirklichkeit.
Und da waren dumme Fragen wie die nach dem Geburtsdatum vorerst ausgeblendet.
Nun aber kam sie ihm immer jünger vor. Das Leben hier draußen tat ihr sichtlich gut. Ihre Haut bekam ein goldenes Flair. Und wenn sie ihr Haar offen trug, sah sie manchmal beinah aus wie ein junges Mädchen.
Stimmt schon, diesen Eindruck hatte er eher aus einer gewissen Entfernung. Wenn er aus dem Wald zurückkam, wo er die Schlingen, die er raffiniert an Ästen oder Wurzeln befestigt, und die Fallen, die er im Unterholz gut getarnt hatte, jeden Morgen kontrollierte. Molly war schlank, vielleicht eine Spur zu sehr, doch diese Schlankheit, die ihrem Wesen entsprach, verlieh ihr eine gewisse fast elfenhafte Anmut. Wenn er näher kam, sah er, dass seine Elfe Fältchen um die Augen hatte und auch ein paar graue Strähnen im rötlichen Haar, aber das brachte den Eindruck der Mädchenhaftigkeit nicht ganz zum Verschwinden.
Einer Mädchenhaftigkeit, die ihr durch all die Jahre erhalten geblieben war. Auch wenn es letzthin manchmal schon so ausgesehen hatte, als wollten sich darunter bereits die Konturen einer älteren Frau abzeichnen. Anderseits erblühte in Mollys Erscheinung nun etwas ganz unvermutet Frauliches. Wahrscheinlich trug diese späte Blüte dazu bei, die Erscheinung der älteren Person, die sich manchmal, wenn sie sich im Spiegel betrachtete, schon angekündigt hatte, vorläufig zu bannen.
Hier draußen gab es keinen Spiegel, aber Molly spürte diese ihre neue Weiblichkeit. Andere Frauen erlebten das zwanzig bis dreißig Jahre eher. Aber bei Molly kam es eben jetzt. Und das ist doch schön, sagte Julia. Es war noch nicht zu spät, sagte Marco. Besser spät, darüber waren sie sich einig, als nie.
11
Und eines spielte nun eine ganz entscheidende Rolle: Miss Mollys überraschendes Talent für die Liebe.
A love I had not experienced before
, hatte der alte Mortimer an dem Abend gesagt, als er Julia und Marco seine Geschichte mit Miss Molly zu erzählen begonnen hatte. Gewiss
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