Mortlock
versuchte, ihn an den Schultern hochzuziehen. Doch Cardamom stöhnte vor Schmerz und sank keuchend wieder auf sein Kissen. »Du musst mir helfen, Onkel. Ich kann dich nicht alleine hochheben.«
»Keine Zeit«, murmelte er heiser. »Du musst fliehen …«
»Nicht ohne dich!« Sie zog an seinem spindeldürren Arm, doch Cardamom sank nur zur Seite.
»Josie«, flüsterte er. Sein Blick wurde sanft, als er ihr über die tränennasse Wange strich. »Mein wunderhübsches Mädchen. Du siehst deiner Mutter so ähnlich … Es gibt so viel, was ich dir hätte sagen sollen, und jetzt ist keine Zeit mehr.«
»Sag so etwas nicht, Onkel. Wir können entkommen –«
»Nein.« Cardamom schüttelte den Kopf. »Hör mir zu. Du musst fortgehen. Du hast einen Bruder – er kann dir helfen.Gimlet weiß Bescheid. Geh zu Gimlet. Vernichte die Amarant … Finde Mortlock. Hier …«
Er schob die Hand unter das Kissen und gab ihr ein zerknittertes Stück Papier. Josie starrte erst auf das Papier, dann auf ihren Vormund.
»Einen Bruder? Mortlock? Was meinst du damit? Ich verstehe nicht.« Sie umarmte Cardamoms geschwächten Körper und spürte, wie sein Atem schneller wurde.
»Gimlet … erklärt … dir … alles«, keuchte er. »Pass gut auf diesen Brief auf. Er wird …« Dann stieß er einen Seufzer aus, als wäre er der Welt müde, und sank schwer und leblos in Josies Armen zusammen. Ein letzter stöhnender Atemzug, dann herrschte Stille.
»Onkel?« Schluchzend ließ Josie ihn los und strich ihm übers Haar. »Geh nicht, bitte, bitte –«
Hinter ihr knarrte eine Diele.
Als sie sich umwandte, sah sie Tante Mag im Türrahmen stehen.
»Was hat er gesagt?«, fragte Tante Mag mit leiser, drohender Stimme und kam langsam auf sie zu. »Hat er dir gesagt, wo die Amarant ist?«
Bei dem Wort zuckte Josie zusammen und hätte beinahe aufgeschrien. Tante Mag zischte triumphierend.
»Ha! Dachte ich es mir doch! Ich wusste, wenn wir euch eine Gelegenheit zum Reden geben, würde er es dir sagen.« Ihre Augen funkelten gierig. »Und wo ist sie, meine Liebe?«
Josie stand von Cardamoms Bettrand auf und schob dabei unauffällig das Papier in ihren Rockbund.
»Sag es mir, Josie,
vielleicht
verschone ich dich dann.« Tante Mag lächelte boshaft und trat noch einen Schritt näher. Josie versuchte ihr auszuweichen, stellte jedoch fest, dass hinter ihrCardamoms Schreibtisch stand. Sie konnte nirgendwohin, und Tante Mag kam immer näher. Als Josie nach hinten griff, um sich an der Tischplatte abzustützen, ertasteten ihre Finger etwas Kaltes und Hartes. Cardamoms Brieföffner. Instinktiv nahm sie ihn, wog das Gewicht in ihrer Hand, überlegte, wie gut er zu werfen sein würde. Die Klinge war nicht besonders scharf, aber die Spitze konnte durchaus Schaden anrichten, wenn der Brieföffner mit Kraft geworfen wurde.
»Wer seid ihr? Warum wollt ihr diese … Amarant unbedingt haben?«, fragte Josie, um Tante Mag abzulenken, während sie den Brieföffner in ihren Ärmel gleiten ließ.
»Wer wir sind?« Tante Mag grinste boshaft. Sie schüttelte sich und senkte den Kopf. Sprachlos sah Josie zu, wie ihre Gestalt langsam wuchs und sich veränderte.
Schwarze, schimmernde Federn sprossen aus ihrem Kopf. Ihr Kleid flatterte auf, legte sich eng um ihren Körper und spreizte sich hinten zu einem fächerartigen Schwanz. Ihre Beine verwandelten sich in schuppige Klauen, und ihre Arme verlängerten sich zu breiten, mit scharfen Krallen bewehrten Flügeln. Josie starrte in dieselben funkelnden Knopfaugen, doch nun saßen sie in einem mächtigen, vogelartigen Kopf mit einem langen, grausamen Schnabel. Das schwarze Gefieder schimmerte bedrohlich im Kerzenschein.
»Wir sind Ghule – Raben der Nacht, auf der Suche nach Aas«, keckerte Tante Mag und stürzte sich auf sie.
Josie blieb keine Zeit mehr, den Brieföffner zu werfen, und so zog sie ihn aus dem Ärmel und hielt ihn schützend vor sich. Mit einem Schrei taumelte Tante Mag zurück, die Klinge in ihrer Seite.
Ohne zu zögern, sprang Josie über den Ghul und rannte hinaus in den Flur, wobei sie Tante Veronica, die alarmiertherbeigelaufen war, beiseitestieß. Auf halbem Weg nach unten stellte sich ihr Tante Jay in den Weg. Josie blieb nichts anderes übrig, als mit einem Satz über das Treppengeländer zu springen und Richtung Küche zu fliehen. Sie schnappte sich ein paar Fleischmesser von der Spüle, riss die Hintertür auf und rannte keuchend durch den schmalen Seitengang, der zur Straße führte.
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