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Mortlock

Mortlock

Titel: Mortlock Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jon Mayhew
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draußen war alles ruhig. In der Ferne hörte man das Rattern von Kutschen und Hufgeklapper auf dem Kopfsteinpflaster. Die Häuser rechts und links schienen sich schützend aneinanderzukauern, sodass die Straße noch dunkler wirkte. Plötzlich durchbrach ein markerschütternder, unmenschlicher Schrei die Stille, und oben stürzte sich eine schwarze gefiederte Gestalt aus dem Fenster.
    Der Ghul stieß auf sie herab, und Josie warf das erste Fleischmesser durch die Luft. Mit einem Zornesschrei wich der Vogel aus, flog eine Kurve und steuerte erneut auf Josie zu. Auch das zweite Messer ging vorbei, aber es zwang den Ghul, nach rechts auszuweichen und erneut durch die Luft zu kreisen. Josie wappnete sich, als die Kreatur ein drittes Mal auf sie zugeschossen kam.
    Ein Messer hatte sie noch. Ihre letzte Chance.
    Sie wusste, diesmal durfte sie nicht danebenwerfen. Die grausamen Augen und der spitze Schnabel jagten auf sie zu. Sie holte Luft – und warf.
    Ein schriller Schmerzensschrei zerrte an Josies Trommelfellen. Sie sah nicht nach, welchen Schaden sie angerichtet hatte, sondern lief, so schnell sie konnte, in die dunkle Nacht. Bei jedem taumelnden Schritt schluchzte sie. Da waren noch zwei Vögel, und sie würden sie verfolgen. Jedes Rascheln und jeder Schatten ließ Josie zusammenzucken. Ihre Lungenbrannten, aber sie durfte nicht innehalten, bis sie die Sicherheit der Hauptstraße erreicht hatte.
    Das Geräusch ihrer Stiefel hallte vom Kopfsteinpflaster wider, und ihr schwerer Rock war schlammbespritzt. Als sie über die Schulter blickte, rutschte sie aus und wäre beinahe in den Rinnstein gefallen.
    »He, pass doch auf!«
    Josie fuhr herum und hätte beinahe eine Gruppe elegant gekleideter Herren umgerannt, die vor ihr auf dem Gehsteig standen. Mit einer Entschuldigung wich sie zur Seite aus. Sie hatte Kopfschmerzen, und ihr war übel, aber das Geräusch flatternder Flügel ließ sie weiterlaufen.
    Auf der Hauptstraße wimmelte es von Leuten, die nach dem Abendessen auf dem Heimweg waren. Josie drängelte sich zwischen ihnen hindurch, ohne sich darum zu scheren, wie schmutzig und zerzaust sie aussah. Schließlich kauerte sie sich in den Eingang eines Geschäfts und rang nach Atem.
Ich muss klar denken
, ermahnte sie sich.
Schluss mit der Panik
.
    Das Erato.
    Sie musste zum Theater und zu Gimlet.
    Als sie den Blick hob, stöhnte sie auf. Tante Veronica, nun wieder in ihrer menschlichen Gestalt, steuerte genau auf sie zu. Ihr Kopf zuckte hierhin und dorthin, während sie die Menge absuchte. Leise fluchend rappelte Josie sich wieder auf.
    Ein betrunkener Bettler stellte sich Tante Veronica in den Weg und schwenkte einen Henkelbecher vor ihrem Gesicht.
    »Haben Sie vielleicht einen Penny für einen alten Soldaten, Ma’am?«
    Josie sprang aus ihrem Versteck und nahm ihre Flucht wieder auf.
    Schrill erhob sich Tante Veronicas Stimme über den Straßenlärm: »Gehen Sie gefälligst aus dem Weg, Sie widerwärtiger Vagabund! Ich lasse Sie auspeitschen!«
    Josie drängelte sich zwischen verärgerten Passanten hindurch.
    »Halten Sie das Mädchen fest!«, kreischte Tante Veronica. »Halten Sie sie fest … Sie hat meine Geldbörse gestohlen!«
    Arme reckten sich aus der Menschenmenge und versuchten, Josie zu packen. Sie wand und duckte sich, warf sich schließlich zu Boden und robbte zwischen den Beinen der Menschen hindurch, dann rappelte sie sich wieder hoch und lief weiter. Sie wagte es nicht, über die Schulter zu blicken.
    Vor ihr tauchten die warmen Lichter des Erato auf. Josie rannte in die schmale Seitengasse, schob sich durch den Bühneneingang und lief, vor Erleichterung schluchzend, den heruntergekommenen Flur entlang, der zu den Garderoben führte.
    Sie hatte es geschafft. Sie war entkommen!
    Fürs Erste
, dachte sie. Draußen auf der Straße waren immer noch Tante Veronicas schrille Schreie zu hören. Sie musste Gimlet finden.





O tot werde ich sein, Mutter,
    Grad wie ein Mauerstein.
    O alle Pflastersteine, Mutter,
    Werden mich bewein’.
    Das Lied vom Kirschbaum
(The Cherry Tree Carol),

altes Volkslied

6. KAPITEL

Kein Schlupfwinkel
    Sie hatte kaum Zeit, den vertrauten Geruch nach Feuchtigkeit, Schimmel, Schminke, Schweiß und billigen Zigarren wahrzunehmen oder auf das Lied zu lauschen, das unter lautstarker Beteiligung des Publikums auf der Bühne vorgetragen wurde. Josie lief durch die schmalen Korridore.
Wo steckt Gimlet?
Er schien sich in Luft aufgelöst zu haben. Mit zitternden Fingern schloss sie

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