Mortlock
und ließ die Hände sinken. Die Fliegen fielen zu Boden, tot und vertrocknet.
»O Alfie, das ist widerlich!« Josie sah ihn an und dachte zurück an den Krötenjungen aus dem Beerdigungsinstitut. Seither war viel passiert. Alfie errötete und senkte den Kopf.
»Na ja, ich hab gedacht, ein bisschen üben schadet nicht. Sie sind zwar nur klein, aber ich kann mich jetzt besser konzentrieren, und es wird leichter. Sie tun, was ich will. Das könnte ja irgendwann noch mal nützlich sein.«
»Ja, falls wir eine Armee von toten Fliegen brauchen«, spottete sie und warf ihm einen vernichtenden Blick zu. Dann stieg ein Anflug von Panik in ihr auf, und sie warf sich aufs Bett. »Was ist, wenn es schiefgeht, Alfie? Und die Amarant haben wir auch immer noch nicht gefunden. Das schaffen wir nie.«
»Wir müssen es wenigstens versuchen«, sagte Alfie leise. »Corvis fängt bestimmt bald an, uns Fragen zu stellen. Er willdie Amarant haben, und er denkt, wir wissen, wo sie ist. Wir müssen hier weg und sie vor ihm finden.«
Den ganzen Nachmittag lang zermarterte Josie sich das Hirn, ob es nicht doch eine andere Möglichkeit gab zu fliehen und welche Risiken der Plan barg, den sie hatten. Konnten sie sich wirklich auf den Jungen verlassen, sofern Arabella überhaupt einen fand? Wie lange würden die Tanten mit ihrem Festmahl beschäftigt sein? Sie verfluchte sich dafür, dass sie an dem Morgen keinen kühlen Kopf bewahrt hatte. Sie hätte darauf achten sollen, wie lange sie in dem Nebenraum geblieben waren.
»Ich muss immer wieder an diesen Brief denken, den dein Onkel dir gegeben hat«, unterbrach Alfie ihre Gedanken. »Der klang irgendwie komisch. Wie ein Rätsel oder so …«
»Was meinst du damit?« Josie kaute auf ihren Haarspitzen herum. Wieso fing er denn jetzt von dem Brief an? Das Wichtigste war doch erst mal die Flucht.
»Na ja, diese Sache von wegen ›Denke an meine letzten Worte und schenke meinem Lebewohl keine Beachtung‹«. Das klingt, als wäre da eine doppelte Bedeutung drin.«
»Kannst du dich nicht mal auf das Wesentliche konzentrieren, nämlich wie wir hier rauskommen?«, fuhr Josie ihn an. Ihre Nerven waren zum Zerreißen gespannt.
»Dann eben nicht«, brummte Alfie und hockte sich in eine Zimmerecke, um seinen Fliegenschwarm wiederzuerwecken. Draußen senkte sich die Dämmerung herab, und wieder erschien das seltsame Licht am Horizont.
»Da ist das Licht wieder«, sagte Josie und drückte die Stirn an die kalte Fensterscheibe.
»Was mag das wohl sein?« Alfie trat zu ihr und blickte ihr über die Schulter.
Es klopfte an der Tür, und Arabella kam mit zwei Tellern Suppe herein. Sie wirkte aufgeregt und nervös.
»Also, ich war unten im Dorf, bei Sammy Nichols. Er meinte, es würde ihm nichts ausmachen, die Lieferung zu bringen – wollte mir wohl beweisen, wie mutig er ist.« Sie grinste und errötete ein wenig. »Ich habe ihm einen Brief für Jacob Carr gegeben, in dem steht, dass Sammy diesmal die Lieferung übernimmt … und dass Jacob auf der Rückfahrt nach London zwei Passagiere mitnehmen soll.«
»Vielen Dank, Arabella, ich weiß, wie gefährlich das für dich sein kann.« Josie umarmte sie. »Ich wünschte nur, es gäbe eine andere Möglichkeit …«
»Ach, macht euch keine Sorgen um mich«, sagte Arabella mit derselben übertriebenen Munterkeit, die Josie schon am ersten Tag bemerkt hatte. »Ich kann schon selbst auf mich aufpassen.«
»Arabella«, sagte Alfie und sah sie eindringlich an. »Da draußen in der Ferne ist so ein seltsames Licht. Weißt du, was es damit auf sich hat?«
»Nein.« Arabella verschränkte die Arme, dann seufzte sie. »Na ja, ich weiß, was die Leute sich erzählen, aber …« Sie schüttelte den Kopf und wandte sich vom Fenster ab.
»Aber was?«, fragte Josie mit großen Augen.
»Es ist eine grausige Geschichte. Und über so was redet man besser nicht.«
»Jetzt erzähl schon«, drängte Alfie.
Arabellas Augen fingen nervös an zu flackern. »Wir haben doch schon genug, worüber wir nachdenken müssen.«
»Bitte«, sagte Josie. »Dieses Licht hat irgendetwas, das einen anzieht.«
»Ich weiß, das ist ja das Schlimme daran«, erwiderte Arabella.»Das Licht scheint jede Nacht ganz weit da draußen, wo die Themse ins Meer fließt. Und zwar schon so lange, wie ich denken kann.«
»Bitte, Arabella, erzähl’s uns.« Alfie zupfte sie am Ärmel.
»Es heißt, früher wäre jedes Jahr ein Wanderzirkus zum Anwesen der Familie Corvis gekommen, um dort zu
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