Mortlock
»
Ich
sollte mich bei
dir
entschuldigen.«
»Wie viel hast du eben in Lord Corvis’Arbeitszimmer mitgekriegt, Arabella?«, fragte Alfie leise.
»Genug, um zu wissen, dass die Damen nichts Gutes mit euch im Sinn haben.« Sie senkte die Stimme zu einem wütenden Flüstern. »Aber das wusste ich schon, als ihr hier angekommen seid. Sie reden über meinen Kopf hinweg, als wäreich taub oder blöd. Ich weiß, dass es hier nicht mit rechten Dingen zugeht, seit Seine Lordschaft zurückgekommen ist … Aber was hätte ich tun sollen? Als ich deine Geschichte gehört habe, Josie, da bin ich sozusagen aufgewacht.« Sie schloss die Augen, holte tief Luft und sprudelte los: »Deshalb habe ich beschlossen, Jacob zu fragen, ob er übermorgen ein paar blinde Passagiere mit nach London nehmen kann.«
»Was?« Josie sprang auf Arabella zu und umarmte sie. »Das ist ja wunderbar! Wie sollen wir dir nur jemals danken?«
»Schon gut, Hauptsache, ihr schafft es zu fliehen«, erwiderte Arabella. Dann fiel ihr Blick auf Alfie, der mit ernster, nachdenklicher Miene dastand.
»Das ist ja alles gut und schön«, murmelte er. »Aber wie sollen wir aus dem Haus kommen?«
»Warum verschwindet ihr nicht einfach, wenn die Damen … na ja, ihr wisst schon … mit ihrer Lieferung beschäftigt sind?« Arabella schüttelte sich.
»Wegen der Vögel«, sagte Alfie. »Du hast doch gehört, was die alte Schachtel gesagt hat: Sie zählen die Leute, die rein- und rausgehen.«
»Glaubst du, das stimmt?«, fragte Arabella mit skeptischer Miene. »Ich meine, das sind doch bloß Krähen.«
»Wir haben sie schon in Aktion gesehen«, erwiderte Alfie. Josie dachte an das chaotische Geflatter draußen vor
Scrabsnitchs Laden. »Alfie hat recht«, sagte sie. »Es ist schwer zu glauben, Arabella, aber sie dienen Lord Corvis und den Tanten. Trotzdem müsste es möglich sein, sie zu täuschen …«
»Und wenn Arabella Mr Carr entgegengeht, mit ihm zum Haus kommt und ihn drinnen eine Weile beschäftigt hält?«, überlegte Alfie laut.
»Während wir hinausschlüpfen«, ergänzte Josie.
»Genau.« Alfie grinste. »Zwei Leute rein, zwei Leute raus.«
»Dann könnt ihr zum Boot laufen und wärt bald auf dem Weg nach London – die bleiben nämlich nie lange hier«, fügte Arabella hinzu.
»Aber wie soll Jacob dann aus dem Haus kommen?«, fragte Josie und ließ die Schultern hängen. »Und ohne ihn kann das Boot nicht ablegen.«
Sie versanken in Schweigen. Josie kaute an ihren Fingernägeln. Sie hatte das Gefühl, ihr würde gleich der Kopf platzen. Jacob musste mit ihnen kommen, aber dann wären sie zu dritt.
Wie können wir drei aus dem Haus kriegen, wenn nur zwei reingehen?
, fragte sie sich. Alfie ging im Zimmer auf und ab.
»Der Lieferant muss im Haus bleiben«, sagte Arabella nach einer Weile. »Das ist die einzige Möglichkeit. Aber vielleicht kann ich einen der Jungs aus dem Dorf überreden, die Lieferung zu übernehmen – den Damen ist es gleich, wer ihnen den Sack bringt.«
»Damit gehst du aber ein großes Risiko ein«, sagte Alfie. »Bist du sicher, dass dir nichts passiert?«
»Ich glaube nicht, dass Seine Lordschaft mich verdächtigt, solange ich mich dumm stelle.« Arabella bemühte sich, gleichmütig zu klingen, aber ihre Finger verknoteten sich. »Vielleicht bestraft er mich, weil ich so blöd war, euch gehen zu lassen, aber was sollen wir sonst machen?«
Obwohl sie nun einen Plan hatten, kam ihnen der Raum sogar noch düsterer und beklemmender vor, als Arabella sie verließ, um an ihre Arbeit zurückzukehren.
»Lord Corvis könnte misstrauisch werden, wenn ich zu viel Zeit hier oben verbringe«, sagte sie mit einem Zwinkern, als sie hinausging. »Ich gehe nachher mal ins Dorf und frage,ob einer von den Jungs bereit ist, die Lieferung zu übernehmen …«
Es gibt so viel, was schiefgehen kann, dachte Josie, als die Tür sich schloss. Sie starrte hinaus auf das trübe Grau der Marsch und lauschte dem melancholischen Krächzen ihrer geflügelten Wächter. Waren die Krähen klug genug, um die Leute voneinander zu unterscheiden? Was würde mit Arabella geschehen, falls Corvis ihr auf die Schliche kam? Josie schüttelte den Kopf.
»Vielleicht sollten wir uns einen Plan überlegen, an dem Arabella nicht beteiligt ist«, sagte sie und wandte sich zu Alfie um. »Was machst du denn da?«
Alfie hielt die Hände vor sich ausgestreckt und umschloss damit einen kleinen Schwarm Fliegen, die summend umeinanderflogen. Ertappt räusperte er sich
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