Mortlock
um die Erinnerung an diese unerträglich schöne Blume auszulöschen … Ich habe mich selbst dafür bestraft, dass ich meine Freunde hintergehen und die Blume an mich nehmen wollte. Als ich schließlich der Versuchung nachgab und nach Abessinien zurückkehrte, war die Amarant verschwunden. Ich war derjenige, der hintergangen worden war …«
»Das klingt aber ganz schön verbittert«, murmelte Alfie.
»Ach, das sind doch bloß faule Ausreden«, entgegnete Josie barsch und las weiter. »Hier, sieh mal, vor vier Wochen:
Habe eine Nachricht an Chrimes in seinem Theater geschickt … ein Treffen verlangt … hat mich abgewiesen … mir gesagt, ich soll mich von ihm fernhalten …
Siehst du, Onkel war ein guter Mann – er wollte nichts mit Corvis und der Amarant zu tun haben.«
»Ich weiß, Josie, ich weiß«, sagte Alfie, um sie zu besänftigen. »He, vielleicht hat er deshalb Mortlocks Papiere zu Scrabsnitch gebracht – weil er Angst hatte, dass Corvis sie in die Finger kriegt.«
»Er muss gewusst haben, dass Corvis nach ihm suchen würde.« Josie ließ das Buch einen Moment sinken. Hatte Cardamom gewusst, dass Corvis so skrupellos sein würde? Kein Wunder, dass er in den letzten Wochen so in Gedanken gewesen war.
»Wenn er von den Tanten gewusst hätte«, sagte Alfie leise und legte seine Hand auf ihre Schulter, »hätte er dich ganz bestimmt in Sicherheit gebracht.«
Josie lächelte tapfer und blinzelte die Tränen weg. Dann beugte sie sich wieder über das Tagebuch und blätterte noch weiter zurück. »Hör dir das an«, sagte sie mit schwacher, von
Grauen erfüllter Stimme.
»Habe gestern drei Vögel gefunden: eine Elster, einen Raben und einen Eichelhäher. Tot, aber noch frisch, voller Schrotkugeln und an einen Drahtzaun gehängt … Dank der Macht, die die Amarant mir gegeben hat, habe ich ihnen neues, wenn auch unvollkommenes Leben eingehaucht …«
»Meint er damit die Tanten?«, fragte Alfie und starrte entsetzt auf die Seite.
Plötzlich öffnete sich knarzend die Tür. Josie zuckte zusammen und ließ das Buch fallen. Alfie stieß vor Schreck einen Schrei aus. Tante Veronica stand mit funkelnden Augen im Türrahmen, das schwarze Spitzenkleid von getrocknetem Blut verklebt. Bei ihrem Anblick schnürte sich Josie die Kehle zusammen.
»Lord Corvis hat uns gefunden, steif und kalt im eisigenWind baumelnd«, zischte sie mit bösartigem Lächeln und kam langsam auf sie zu. »Er hat uns neues Leben eingehaucht, uns zu dem gemacht, was wir jetzt sind …« Sie beugte sich über den Tisch, sodass ihr Gesicht beinahe Josies berührte.
»L-Lord Corvis hat euch v-verboten, uns etwas anzutun«, stotterte Josie. Ihr wurden die Knie weich, und ihr Schädel pochte, als Tante Veronica sie mit ihrem Blick durchbohrte.
»Keine Sorge.« Tante Veronica senkte die Stimme zu einem Flüstern. »Eines Tages bist du dran, Josie Chrimes. Ihr könnt uns nicht entkommen. Unsere Schwestern, die Krähen, sind ausgezeichnete Wachen. Sie zählen die Leute, die hinausgehen, und die, die hineingehen. Sie sind überall, und sie würden es sofort merken, falls ihr euch aus dem Staub macht.«
In dem Moment tauchte Arabella hinter ihr auf und räusperte sich höflich. »Ich bringe sie jetzt besser wieder auf ihr Zimmer, Miss«, sagte sie mit einem Knicks. Ihr Gesicht war blass und ausdruckslos, ihr Blick zum Boden gesenkt.
»Meinetwegen«, zischte Tante Veronica. »Aber denk dran, Josie, unsere Zeit wird kommen.«
Wie jede Jungfer so auch ich
Um den Liebsten trauern mag
Mit Tanz und Sang auf seinem Grab
Ein Jahr und einen Tag.
Das braune Mädchen
(The Brown Girl)
,
altes Volkslied
18. KAPITEL
Arabellas Geschichte
Schweigend gingen Josie, Arabella und Alfie nach oben zu den Zimmern. Der Streit von vorhin hing immer noch in der Luft.
Jetzt mach schon
, ermahnte sich Josie.
Warum kannst du nicht einfach sagen, dass es dir leidtut?
Alfie ging offenbar etwas Ähnliches durch den Sinn, denn er sah sie immer wieder mit hochgezogenen Augenbrauen an und deutete mit dem Kopf auf Arabella.
Als sie in Josies Zimmer ankamen, räusperte er sich und sagte: »Josie hat dir etwas zu sagen, Arabella.«
Josie warf ihrem Bruder einen wütenden Blick zu. Wie kam er dazu, für sie zu sprechen? Aber sie wusste, dass er Recht hatte. »Tut mir leid«, sagte sie, die Augen auf ihre Füße gerichtet. »Ich hätte dich vorhin nicht so anfahren sollen. Das war ungerecht …«
»Nein, Josie.« Arabella errötete und lächelte ihr scheu zu.
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