Mortlock
Ende derLeiter gerichtet, wo der Hauptpfosten durch eine runde, von einem Metallring umgebene Öffnung hinausragte – derselbe Fluchtweg, den auch Corvis’ Rabe angesteuert hatte. Josie hoffte, dass sie mehr Erfolg haben würden.
Die steigende Flut füllte das Zelt, und der Abstand zwischen Wasser und Decke wurde immer geringer. Das Licht schwand; die Luft war warm und roch nach Moder und Verwesung. Josie sah bleiche Körper aus den dunklen Tiefen aufsteigen, die Arme nach ihr ausgestreckt. Alfie hatte jetzt den Pfosten erreicht und kletterte durch die Öffnung nach draußen. Josie konnte nur noch den Umriss seines Körpers erkennen, der sich über ihr in die Zeltplane drückte. Dann erschien er wieder, streckte ihr seine Hand entgegen, und sie wollte gerade danach greifen, als starke, knochige Finger sie am Fußknöchel packten und nach unten zogen.
Das Wasser schlug über ihr zusammen, und sie hielt die Luft an. Überall um sie herum waren tote Augen, bleiche Haut, gierige Hände. Über ihr konnte sie gerade noch den hellen Kreis der Öffnung und Alfies Umriss erkennen. Mit einer letzten Kraftanstrengung strampelte sie sich frei und schwamm nach oben. Alfie packte ihre Arme und zerrte sie durch das Loch.
Die Flut hatte das Zelt fast vollständig bedeckt. Nichts versuchte, die Oberfläche zu durchbrechen, keine Hände griffen mehr nach ihnen. Josie paddelte auf der Stelle, so gut es mit ihrem schweren, nassen Rock ging, und versuchte, nicht unterzugehen. Auch Alfie kämpfte mühsam gegen die eisigen Wellen.
Plötzlich umklammerte etwas ihr Bein und hielt sie fest, während das Wasser weiter stieg. Josie blickte nach unten, doch diesmal war es keine halb verweste Hand, die sie packte,sondern ein mit Algen überzogenes Zeltseil, das sich um ihre Wade geschlungen hatte.
Panisch stieß sie Luftblasen aus und zerrte an dem Seil. Alfie schwamm als dunkler Schatten über ihr, nur ein paar quälende Armeslängen entfernt. Ihre Lunge brannte; sie hatte das Gefühl, sie würde gleich platzen. Sie zog erneut, doch das Seil gab keinen Fingerbreit nach. Josie riss das Messer aus ihrem Rockbund und versuchte, das Seil durchzuschneiden, aber die Fasern waren wie aus Stahl. Ihr ganzer Körper schmerzte von der Kälte und von der Anstrengung des Luftanhaltens. Mit einem letzten verzweifelten Hieb gelang es ihr schließlich, das Seil zu durchtrennen, tauchte nach oben, die Schlingen noch immer um ihr Bein, und brach mit einem Keuchen durch die Oberfläche.
Alfie paddelte geschwächt zu ihr, und sie hielten sich an der Hand, während sie versuchten Wasser zu treten. Das Zelt unter ihnen war nur noch ein ferner dunkler Schatten. Das schauerliche Publikum lauerte dort unten und wartete auf sie, wartete darauf, dass ihre Kräfte nachließen und sie sich der betäubenden Kälte der Wellen ergaben, wartete darauf, sie erneut im Zirkus der Toten willkommen zu heißen.
Im Meere ertrank er, schläft dort auf dem Grund,
Ich stürz hinterdrein mich und küss ihm den Mund,
Die schneeweißen Lippen, einst korallenrot,
Und sterb ihm zur Seite, denn mein Liebster ist tot.
Der ertrunkene Liebste
(The Drowned Lover)
,
altes Volkslied
27. KAPITEL
Die Galopede
Wasser klatschte Josie ins G3esicht, während sie verzweifelt kämpfte, um nicht unterzugehen. Ihre Kleider waren schwer wie Blei und zogen sie nach unten. Sie versuchte sie auszuziehen, doch dabei versank sie jedes Mal im eisigen Wasser. Ihre Beine, an denen immer noch das Seil hing, schmerzten vor Anstrengung. Plötzlich schlug eine Welle über ihr zusammen. Panisch schlug sie mit den Armen um sich und brach mit einem erstickten Schrei durch die Oberfläche.
Vor ihnen tauchte ein riesiger Schatten auf, schwarz und dunkelrot.
»Ein Frachtkahn«, rief Alfie gurgelnd und spuckte eine Fontäne Salzwasser aus.
Das große Boot kam immer näher, doch niemand an Bord schien sie bemerkt zu haben. Am Heck konnte Josie eine einzelne Gestalt erkennen. Trotz des Wassers, das ihr ständig in die Ohren klatschte, hörte sie das Rascheln und Knattern der Segel. Alfie brüllte und wedelte mit den Armen, wobei er mehr als einmal unterging. Das Boot fuhr schnell – noch ein paar Sekunden, und es wäre an ihnen vorüber.
Immer wieder schlugen Josie die Bugwellen des Bootes ins Gesicht. Mit letzter Kraft warf sie das Messer in Richtung Boot, um auf sich aufmerksam zu machen. Dann schlugendie Wellen erneut über ihr zusammen, und sie sah nicht mehr, was mit dem Messer geschah. Wasser drang
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