Mortlock
jetzt?«, fragte Alfie und fuhr sich durch das nasse Haar. »Wir sind immer noch keinen Schritt weiter, was die Amarant oder Mortlock angeht.«
»Ich weiß.« Josie stützte das Kinn auf die Knie. »Lorenzo hat gesagt, dass die Amarant begraben ist.«
»Aber woher sollte Lorenzo das wissen? Das begreife ich einfach nicht.«
Josie zuckte die Achseln. Ihre Augenlider waren schwer wie Blei, und sie konnte nicht mehr klar denken. »Sie ist die Blume des Lebens, sie hat Zauberkräfte …«
Alfie schüttelte langsam den Kopf. »Nein, da muss mehr dran sein.« Er gähnte und blinzelte. »Ich weiß nur nicht, was. Komisch, je mehr wir … über diese Amarant herausfinden … desto weniger … wissen wir …« Ihm fielen die Augen zu. Die Wärme und das Schaukeln des Bootes, kombiniert mit seiner Erschöpfung, sorgten dafür, dass er innerhalb von Sekunden schnarchend auf der Pritsche lag.
Josie lächelte und legte sich mit dem Kopf zur anderen Seite. Diesmal waren sie
wirklich
in Sicherheit. Sie schloss die Augen und sank in einen tiefen, traumlosen Schlaf.
Am nächsten Morgen wurde Josie vom Schrei der Möwen wach. So ausgeruht hatte sie sich seit Tagen nicht mehr gefühlt. Neben der Pritsche lag ein Stapel saubere Kleidung. Sie griff zuerst nach ihren eigenen Sachen, aber die fühlten sich immer noch feucht an, deshalb inspizierte sie die Kleider auf dem Boden: ein Rock, ein dicker Wollpullover und eine Bluse. Während sie hineinschlüpfte, fragte sie sich, woher Jacob die Sachen wohl hatte. Sie waren trocken und warm und passten ihr sogar.
Der Wind fegte Josie ins Gesicht, als sie den Kopf aus der Kabine streckte. Alfie war schon auf und unterhielt sich mit Jacob, der breitbeinig am Ruder des Frachtkahns stand. Staunend schüttelte sie den Kopf. Gestern Abend, als er an der Korkwand gehangen hatte, ausgelaugt von den gespenstischen Zirkusleuten, hätte sie keinen Penny mehr auf dasLeben ihres Bruders gegeben. Jetzt, fern vom Zirkus, war er wieder lebendig geworden. Josie lächelte, froh, dass sie ihn zurückbekommen hatte.
Die beiden standen am Heck des breiten Kahns, der durch die Wellen pflügte. Ein einzelner Mast ragte in der Mitte des Decks auf. Manny duckte sich unter den Segeln hindurch, holte ein Tau ein und befestigte es an der Seite des Bootes. Bei Alfies Anblick musste Josie grinsen. Er trug einen riesigen, viel zu weiten Pullover, der ihm bis zu den Knien reichte, und Cordhosen, die an den Knöcheln mehrmals umgeschlagen waren. Jacob hielt den Blick geradeaus gerichtet und lauschte mit einem leisen Lächeln.
»Wir sind schon auf der Themse, junge Dame. Passen die Kleider?«, fragte er Josie. »Die haben meiner Susan gehört, als Ersatz, wenn sie mal nass wurde. Aber sie fährt nicht mehr mit. Hat geheiratet und inzwischen selbst Kinder.«
»Sie passen wunderbar, Mr Carr, vielen Dank. Und ich habe mich noch gar nicht dafür bedankt, dass Sie uns gestern das Leben gerettet haben …«
»Schon gut. Bin bloß froh, dass du es geschafft hast, dich bemerkbar zu machen, auch wenn’s nicht ganz ungefährlich war«, erwiderte Jacob mit einem Schmunzeln. »Alfie hat mir alles über den Beruf des Leichenbestatters erzählt. Wusste gar nicht, dass das so kompliziert ist.« Er zwinkerte Josie zu.
»Ich auch nicht«, erwiderte Josie und lächelte verstohlen. Sie blickte über den Fluss. Sie waren nicht allein. Das Wintergrau war mit dunkelroten Segeln gesprenkelt – lauter Frachtkähne, die durch das unruhige Wasser nach London schaukelten. In der Ferne waren die Umrisse der Stadt zu erkennen, von einer schmutzigen Rauchwolke überlagert.
»Wir kommen gut voran. Bald sind wir in London. Dubist bestimmt glücklich, deinen Mr Wiggins wiederzusehen, was?«, sagte Jacob.
»Ja.« Alfie nickte eifrig. »Er ist nämlich mein Vormund, Mr Carr. Und er hat sich bestimmt schon große Sorgen gemacht.«
Josie schwieg. In ihr breitete sich wieder diese Leere aus.
Wer wartet in London auf mich?
Sie seufzte.
»Und was ist mit Lord Corvis?« Jacob warf Josie einen Seitenblick zu. »Wird der sich nicht fragen, wo ihr seid?«
»Ich denke, wir kommen schon zurecht, Mr Carr. Ich glaube nicht, dass er noch nach uns sucht«, erwiderte Josie. Die Erwähnung von Corvis machte sie unruhig. Konnten sie Carr vertrauen? Immerhin belieferte er Rookery Heights und machte Geschäfte mit Corvis. Vielleicht war eine Belohnung auf sie ausgesetzt. Vielleicht würde Carr sie an Corvis verkaufen. Panik wallte in ihr auf.
»Wenn du meinst«,
Weitere Kostenlose Bücher