Morton, Kate
nicht.
Jenseits
der Baumkronen tauchte die Nacht die fernen Felder in immer tiefere Dunkelheit,
und ein Vogelschwarm flog in Richtung Kanal. Die bleiche Hülle des Monds hing
leblos in den Schatten. Percy fragte sich gedankenverloren, ob die Bomber in
dieser Nacht kommen würden.
Mit einem
kurzen Seufzer hob sie eine Hand und berührte die ungewohnt nackte Haut in
ihrem Nacken. Dann, als der Atem des Abends über ihr Gesicht strich, trat sie
fester in die Pedale. Harry und Lucy würden heiraten, und nichts, was Percy
tat oder sagte, würde daran etwas ändern. Klagen würden nichts nützen und
Vorwürfe auch nicht. Was geschehen war, war geschehen. Percy blieb nichts
anderes übrig, als noch einmal ganz neu zu planen. Und dann zu tun, was getan
werden musste, so wie sie es immer gehalten hatte.
Als sie
endlich das Tor von Schloss Milderhurst erreichte, bog sie von der Straße ab,
fuhr über die wackelige Brücke und sprang vom Fahrrad. Obwohl sie den ganzen
Tag über fast nur gesessen hatte, war sie müde, seltsam müde. Erschöpft bis in
die Fingerspitzen. Ihre Knochen, ihre Augen, ihre Arme fühlten sich an, als
wäre alles Leben aus ihnen gewichen. Wie ein Gummiband, das zu fest gespannt
und dann losgelassen worden war, ausgeleiert, schwach und formlos. Sie kramte
in ihrer Umhängetasche, bis sie eine Zigarette fand.
Percy ging
das restliche Stück Weg zu Fuß, schob das Fahrrad neben sich her, während sie
rauchte, und blieb erst stehen, als das Haus nach mehr als einem Kilometer vor
ihr auftauchte. Kaum zu sehen, ein schwarzes Zeughaus, das sich gegen den
marineblauen Himmel abhob, nicht ein Fünkchen Licht. Die Vorhänge waren
zugezogen, die Fensterläden geschlossen, die Verdunkelungsvorschriften wurden
eisern befolgt. Sehr gut. Dass Hitler ihr Schloss aufs Korn nahm, war das
Letzte, was sie gebrauchen konnte.
Sie
stellte ihr Fahrrad ab und legte sich daneben ins abendfeuchte Gras. Rauchte
noch eine Zigarette. Dann noch eine, ihre letzte. Percy rollte sich zusammen
und legte ein Ohr an den Boden, horchte, wie ihr Vater es ihr beigebracht
hatte. Ihre Familie, ihr Haus waren auf einem Fundament aus Worten errichtet,
hatte er immer wieder gesagt; der Familienstammbaum wurde von Sätzen
zusammengehalten anstatt von Asten. Schrift gewordene Gedanken waren in den
Boden des Schlossgartens gesickert, und die Gedichte und Dramen, die
Erzählungen und politischen Abhandlungen würden immer zu ihr sprechen, wenn sie
sie brauchte. Vorfahren, die sie nie gekannt hatte, sie hatten Worte
hinterlassen, Worte, die miteinander plauderten, die von jenseits der Gräber
mit ihr sprachen, und so würde sie nie einsam und allein sein.
Nach einer
Weile stand Percy auf, nahm ihr Fahrrad und ging weiter zum Schloss.
Mittlerweile war es stockdunkel, und der Mond war aufgegangen, der schöne,
verräterische Mond, der seine bleichen Finger über dem Land ausstreckte. Eine
mutige Zwergmaus huschte über den silbrig glänzenden Rasen, feine Grashalme
zitterten auf den Feldern, und dahinter stand schwarz der Wald.
Beim
Näherkommen konnte sie von drinnen Stimmen hören: Saffys und Junipers und noch
eine, eine Kinderstimme. Ein Mädchen. Nach kurzem Zögern nahm Percy die erste
Stufe, dann die zweite, dachte an die zahllosen Male, die sie durch diese Tür
gerannt war, begierig auf die Zukunft, auf das, was sie als Nächstes erwartete,
auf diesen Augenblick.
Als sie
dort stand, die Hand am Knauf ihrer Haustür, schwor sie sich vor den großen
Bäumen des Cardarker-Walds, die ihre Zeugen waren: Sie war Persephone Blythe
von Schloss Milderhurst. Es gab noch andere Dinge im Leben, die sie liebte - nicht
viele, aber es gab immerhin einige: ihre Schwestern, ihren Vater und natürlich
das Schloss. Sie war die Älteste - wenn auch nur um ein paar Minuten -, sie war
die Erbin ihres Vaters, die einzige seiner Töchter, die seine Liebe zu den
Mauern, der Seele und den Geheimnissen ihres Schlosses teilte. Sie würde sich
zusammenreißen und weitermachen. Und sie würde es von jetzt an als ihre Pflicht
betrachten, dafür zu sorgen, dass ihnen kein Leid geschah, sie würde alles tun,
was nötig war, um ihrer aller Sicherheit zu gewährleisten.
Teil drei
Entführungen und Schuldzuweisungen 1992
I m Jahr 1952 hätten die Schwestern
Schloss Milderhurst beinahe verloren. Das Gebäude musste dringend restauriert
werden, die finanzielle Lage der Familie Blythe war desaströs, und der National
Trust bemühte sich nach Kräften, das
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