Morton, Kate
finden wir ja noch mehr?«
Miss Yeats
war so begeistert von der Aussicht auf ein neues Forschungsthema, dass ihre
Wangen rosig glühten, und ich kam mir ziemlich gemein vor, als ich sagte: »Nein,
heute nicht. Ich fürchte, ich habe nicht genug Zeit.« Als sie mich enttäuscht
ansah, fügte ich hinzu: »Tut mir wirklich leid, aber mein Vater wartet auf
meinen Bericht.«
Was
tatsächlich stimmte, trotzdem ging ich nicht auf direktem Weg nach Hause. Als
ich sagte, es gäbe drei Gründe, warum ich mich darauf eingelassen hatte, mein
Wochenende für die Nachforschungen in der Bibliothek zu opfern, war ich nicht
ganz aufrichtig. Ich habe nicht gelogen, die Gründe waren alle korrekt, aber es
gab noch einen vierten, dringlicheren Grund. Ich wollte meiner Mutter aus dem
Weg gehen. Und zwar wegen dieser Briefe, oder genauer gesagt, wegen meiner
Unfähigkeit, den verdammten Schuhkarton verschlossen zu lassen, den Rita mir
gegeben hatte.
Ich hatte
sie nämlich alle gelesen. An dem Abend von Sams Junggesellinnenabschied hatte
ich sie mit nach Hause genommen und sie alle verschlungen, einen nach dem
anderen, angefangen bei dem Brief, den meine Mutter gleich nach ihrer Ankunft
im Schloss geschrieben hatte. Ich stand mit ihr die frostigen ersten Monate des
Jahres 1940 durch,
wurde mit ihr Zeugin der Luftschlacht um England, zitterte mit ihr in der
»Anderson«-Schutzhütte. Im Lauf der anderthalb Jahre wurde die Handschrift
sauberer, die Ausdrucksweise reifer, bis ich lange nach Mitternacht den
letzten Brief las, den Brief, den sie nach Hause geschickt hatte, kurz bevor
ihr Vater sie zurück nach London holte. Er trug das Datum vom 17. Februar 1941:
Liebe Mum, lieber Dad,
es tut mir leid, dass wir am Telefon gestritten haben. Ich habe mich so
sehr über Euren Anruf gefreut, und es macht mich traurig, dass es so
ausgegangen ist. Ich glaube, ich habe mich nicht sehr verständlich
ausgedrückt. Ich wollte sagen, dass ich weiß, dass Ihr nur das Beste für mich
wollt, und ich danke Dir, Dad, dass Du in meinem Namen mit Mr. Solley
gesprochen hast. Trotzdem bin ich nicht der Meinung, dass es »das Beste« für
mich wäre, nach Hause zu kommen und als Schreibkraft für ihn zu arbeiten.
Rita ist anders als ich. Ihr hat es hier auf dem Land überhaupt nicht
gefallen, und sie hat schon immer genau gewusst, was sie tun und werden wollte.
Mein Leben lang hatte ich das Gefühl, dass mit mir etwas nicht stimmte, dass
ich auf eine bestimmte Weise »anders« war, die ich nicht erklären konnte, die
ich nicht einmal selbst verstand. Ich lese gern Bücher, ich liebe es, Leute zu
beobachten, es macht mir Spaß, das, was ich sehe und was ich denke, mit Worten
festzuhalten. Lächerlich, ich weiß! Könnt Ihr Euch vorstellen, dass ich mir
immer vorgekommen bin wie das schwarze Schaf der Familie?
Aber hier habe ich Menschen kennengelernt, die meine Interessen teilen,
und jetzt weiß ich, dass es noch andere gibt, die die Welt genauso sehen wie
ich. Saffy glaubt, dass ich, wenn der Krieg vorbei ist, was bestimmt nicht mehr
lange dauert, gute Aussichten habe, an einer Oberschule aufgenommen zu werden,
und danach ... wer weiß? Vielleicht könnte ich sogar studieren? Auf jeden Fall
muss ich weiterhin fleißig lernen, wenn ich die Chance haben will, auf eine
Oberschule zu wechseln.
Und deswegen flehe ich Euch an — bitte zwingt mich nicht, nach Hause zu
kommen! Die Blythes würden mich gern noch länger dabehalten, und Ihr wisst ja,
dass ich hier gut aufgehoben bin. Ihr habt mich nicht »verloren«, Mum, ich
wünschte, Du würdest so etwas nicht sagen. Ich bin Eure Tochter — Ihr könntet
mich nicht einmal verlieren, wenn Ihr es versuchen würdet. Bitte, bitte, lasst
mich bleiben!
Voller Liebe und Hoffnung,
Eure Tochter Meredith
In jener
Nacht träumte ich von Milderhurst. Ich war wieder ein kleines Mädchen, trug
eine Schuluniform, die mir unbekannt war, und stand vor dem hohen
schmiedeeisernen Tor am Anfang der Zufahrt. Das Tor war verriegelt und viel zu
hoch, um darüberzuklettern, so hoch, dass es, als ich nach oben schaute, bis in
die wirbelnden Wolken ragte. Ich versuchte, am Tor hochzuklettern, aber meine
Füße rutschten immer wieder ab, sie waren weich wie Pudding, wie man es oft in
Träumen erlebt. Das Metall fühlte sich eisig an in meinen Händen, und doch war
ich von dem Verlangen erfüllt zu erfahren, was dahinter lag.
Ich
schaute nach unten, und auf meiner Handfläche lag ein großer, rostiger
Schlüssel. Dann saß
Weitere Kostenlose Bücher