Morton, Kate
ich plötzlich in einer Kutsche hinter dem Tor. In einer
direkt aus dem Modermann entlehnten
Szene wurde ich die lange, gewundene Zufahrt hochgefahren, an dem dunklen,
bebenden Wald vorbei, über die Brücken, bis das Schloss oben auf dem Hügel vor
mir aufragte.
Und dann
war ich auf einmal drinnen. Das Schloss schien verlassen. Die Böden der Flure
waren von einer dichten Staubschicht bedeckt, die Bilder hingen schief an den
Wänden, die Vorhänge waren zerschlissen. Aber ich sah nicht nur die äußeren
Anzeichen des Verfalls. Die Luft war abgestanden und roch übelkeiterregend, und
ich fühlte mich, als hätte man mich auf einem dunklen, feuchten Dachboden in
einer Kiste eingesperrt.
Dann hörte
ich ein Geräusch, ein leises Rascheln und die Andeutung einer Bewegung. Am Ende
des Flurs stand Juniper, sie trug dasselbe Kleid, das sie angehabt hatte, als
ich das Schloss besichtigt hatte. Ein merkwürdiges Gefühl überkam mich, eine
den ganzen Traum durchdringende tiefe und beunruhigende Sehnsucht. Obwohl sie
kein Wort sagte, wusste ich, dass es Oktober 1941 war und sie auf Thomas Cavill wartete. Hinter ihr tauchte
eine Tür auf, die Tür zum guten Salon. Musik war zu hören, eine Melodie, die
mir vage bekannt vorkam.
Ich folgte
ihr in das Zimmer, wo ein gedeckter Tisch stand. Alles im Zimmer wirkte
erwartungsvoll. Ich ging um den Tisch herum, zählte die Gedecke, wusste
irgendwie, dass eins für mich vorgesehen war und eins für meine Mutter. Dann
sagte Juniper etwas, das heißt, ihre Lippen bewegten sich, aber ich konnte
keine Worte hören.
Plötzlich
stand ich am Fenster, aber gemäß der seltsamen Traumlogik war es gleichzeitig
das Küchenfenster bei meiner Mutter, und ich betrachtete die Fensterscheibe.
Ich schaute nach draußen, wo es stürmte, und dann sah ich einen glitzernden,
schwarzen Schlossgraben. Der Wasserspiegel bewegte sich, und eine schwarze
Gestalt tauchte aus dem Graben auf. Mein Herz schlug wie eine Glocke in meiner
Brust. Ich wusste sofort, dass das der Modermann war, und ich war vor Angst
stocksteif. Meine Füße waren mit dem Boden verwachsen, aber als ich gerade
schreien wollte, war meine Angst mit einem Mal verflogen. Stattdessen
überkamen mich Sehnsucht und Traurigkeit und, ganz unerwartet, Verlangen.
Ich fuhr
aus dem Schlaf, der Traum war bereits dabei, mir zu entgleiten. Verblassende
Bilder hingen wie Geister in den Zimmerecken, und ich blieb eine Weile ganz
still liegen und beschwor sie, sich nicht aufzulösen. Ich hatte das Gefühl,
als könnte die leiseste Bewegung, das winzigste Fitzelchen Sonnenlicht die
Bilder verscheuchen. Aber ich wollte sie noch nicht loslassen. Der Traum war
so lebhaft gewesen, die Sehnsucht so real, dass ich, als ich meine Hand fest
gegen meine Brust presste, fast damit rechnete, einen blauen Fleck auf der Haut
zu hinterlassen.
Nach einer
Weile stieg die Sonne über das Dach von Singer & Sons, die ersten Strahlen
fielen durch die Spalten zwischen den Vorhängen, und die Magie des Traums war
verflogen. Ich setzte mich seufzend auf. Mein Blick fiel auf den Schuhkarton am
Fußende meines Betts. Beim Anblick all dieser Briefe, die nach Elephant and
Castle geschickt worden waren, fielen mir wieder Einzelheiten des vergangenen
Abends ein, und plötzlich fühlte ich mich schuldig wie jemand, der von
verbotenen Früchten gekostet hatte. Sosehr ich mich darüber freute, dass ich
eine Vorstellung von der Stimme, den Bildern und dem Wesen meiner Mutter als
Kind bekommen hatte, und egal wie überzeugend die Argumente waren, mit denen
ich mein Handeln zu rechtfertigen suchte (die Briefe waren vor Jahrzehnten
geschrieben worden, sie waren für die Familie bestimmt gewesen, und meine Mutter
brauchte nie davon zu erfahren), ich konnte den Gesichtsausdruck nicht
vergessen, mit dem Rita mir die Schachtel gegeben und mir viel Spaß beim Lesen
gewünscht hatte, den Anflug eines Triumphgefühls, als hätten wir jetzt ein
gemeinsames Geheimnis, als würde uns von nun an etwas verbinden, das ihre
Schwester ausschloss. Die Wärme, die mich durchströmte, als ich das kleine
Mädchen an der Hand gehalten hatte, war der Reue der Schnüfflerin gewichen.
Ich würde
ihr alles beichten müssen, das war mir klar, aber ich traf eine Abmachung mit
mir selbst. Wenn es mir gelang, aus dem Haus zu kommen, ohne meiner Mutter über
den Weg zu laufen, hätte ich einen ganzen Tag lang Zeit, mir zu überlegen, wie
ich am besten vorgehen sollte. Falls ich ihr auf dem Weg zur Tür
Weitere Kostenlose Bücher