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Morton, Kate

Morton, Kate

Titel: Morton, Kate Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die fernen Stunden
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auf.«
    »Edie?«
Sie lächelte verunsichert, als sie sich an den Tisch setzte und die Schachtel
zu sich heranzog. Ein letzter ängstlicher Blick in meine Richtung, dann nahm
sie den Deckel ab und betrachtete stirnrunzelnd den Stapel vergilbter Briefe.
    Mir wurde
ganz heiß, als hätte ich Feuer in den Adern, angesichts der Gefühle, die sich
in ihrem Gesicht spiegelten. Verwirrung, Argwohn, dann ein kurzes Einatmen,
als die Erkenntnis kam. Später, in meiner Erinnerung, sah ich ihn sehr deutlich,
den Moment, in dem die Handschrift auf dem obersten Umschlag sich in gelebte
Erfahrung verwandelte. Ich sah, wie ihr Gesicht sich veränderte, wie ihre Züge
sich wieder in die einer Dreizehnjährigen verwandelten, die diesen Brief an
ihre Eltern geschrieben und ihnen darin von dem Schloss berichtet hatte, in dem
sie untergebracht war. Sie war wieder dort, zurückversetzt in den Moment, als
sie den Brief verfasst hatte.
    Die Finger
meiner Mutter wanderten an ihre Lippen, an ihre Wange, verharrten kurz an der
kleinen Kuhle an ihrem Hals, bis sie endlich, nach einer Ewigkeit, wie mir
schien, zögernd in die Schachtel griffen. Sie nahm den ganzen Stapel Briefe auf
einmal heraus und hielt ihn in beiden Händen. In Händen, die zitterten. Dann
sagte sie, ohne mich anzusehen: »Woher hast du die ... ?«
    »Von
Rita.«
    Sie
seufzte langsam, nickte, als hätte sie es sich gleich denken können. »Hat sie
dir gesagt, wie sie an die Briefe gekommen ist?«
    »Sie hat
sie nach Grans Tod unter ihren Sachen gefunden.«
    Ein
Geräusch, das der Ansatz zu einem Lachen hätte sein können, wehmütig,
überrascht, ein bisschen traurig. »Ich kann es nicht fassen, dass sie sie
aufbewahrt hat.«
    »Du hast
sie geschrieben«, sagte ich leise. »Natürlich hat sie sie aufbewahrt.«
    Meine
Mutter schüttelte den Kopf. »Aber so war es nicht ... Meine Mutter und ich, wir
waren nicht so.«
    Ich dachte
an Das Buch von den nassen Zaubertieren. Meine
Mutter und ich waren auch nicht so, das hatte ich jedenfalls angenommen. »So
sind Eltern nun mal, denke ich.«
    Meine
Mutter zog mehrere Briefe aus dem Stapel und hielt sie wie Spielkarten in der
Hand. »Dinge aus der Vergangenheit«, sagte sie, mehr zu sich selbst. »Dabei
habe ich alles darangesetzt, das Vergangene hinter mir zu lassen.« Vorsichtig
fuhr sie mit den Fingerspitzen über die Briefe. »Und jetzt, wohin ich mich auch
wende ...«
    Mein Herz
begann zu rasen bei der Aussicht, mehr zu erfahren. »Warum willst du das
Vergangene denn vergessen, Mum?«
    Aber sie
antwortete mir nicht, jedenfalls nicht gleich. Das Foto, das kleiner war als
die Briefe, war aus dem Stapel gerutscht, genau wie am Abend zuvor, und auf
den Tisch gefallen. Sie holte tief Luft, dann hob sie es auf, rieb mit dem
Daumen darüber, ihr Gesicht verletzlich, gequält. »Das ist alles so lange her,
aber manchmal ...«
    Plötzlich
schien sie sich zu erinnern, dass ich da war. Schob das Foto wieder zwischen
die Briefe, gespielt beiläufig, als bedeutete es ihr nichts. Dann schaute sie
mich an. »Deine Gran und ich ... wir hatten es nicht leicht miteinander. Wir
waren sehr verschieden, immer schon, aber nach meiner Evakuierung sind einige
Dinge noch viel deutlicher zutage getreten. Wir haben uns gestritten, und sie
hat mir nie verziehen.«
    »Weil du
auf die Oberschule wechseln wolltest?«
    Alles
schien stillzustehen, selbst die Luft.
    Meine
Mutter sah aus, als hätte ich sie geohrfeigt. Dann fragte sie leise, mit
zitternder Stimme: »Du hast sie gelesen? Meine Briefe?«
    Ich
schluckte. Und nickte zittrig.
    »Wie
konntest du nur, Edith? Das ist privat.«
    Alle meine
Rechtfertigungsargumente lösten sich auf wie ein Papiertaschentuch im Regen.
Vor Scham kamen mir die Tränen, sodass mir alles vor den Augen verschwamm,
auch das Gesicht meiner Mutter. Alle Farbe war aus ihrem Gesicht gewichen, nur
die Sommersprossen waren geblieben, sodass sie wieder aussah wie als
Dreizehnjährige. »Ich ... ich wollte es einfach wissen.«
    »Das alles
geht dich nichts an«, zischte sie. »Es hat nichts mit dir zu tun.« Sie packte
die Schachtel, drückte sie sich an die Brust und eilte nach kurzem Zögern aus
der Küche.
    »Doch, es
geht mich etwas an«, sagte ich zu mir selbst, dann lauter, mit zitternder
Stimme: »Du hast mich angelogen!«
    Sie zuckte
zusammen.
    »Über
Junipers Brief, über Milderhurst, über alles. Wir sind doch da gewesen ...«
    Sie
zögerte kurz an der Tür, drehte sich aber nicht um und blieb nicht stehen.
    »... ich
kann mich

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