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Morton, Kate

Morton, Kate

Titel: Morton, Kate Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die fernen Stunden
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blieb erst
stehen, als ich oben auf dem Hügel angekommen war. Dort drehte ich mich um und
schaute in die Richtung, aus der ich gekommen war. Der Wald breitete sich vor
mir aus, und es schien, als hätte der Herbst die Baumkronen in riesige Fackeln
verwandelt, sie loderten golden, rot und braun. Ich ärgerte mich, dass ich
keine Kamera dabeihatte, um den Anblick für meine Mutter fotografieren zu
können.
    Ich
verließ die Zufahrt, ging an einer hohen Hecke entlang und schaute zum
Dachfenster hoch, dem kleinen, das zum Zimmer der Kinderfrau gehörte, der
Kammer mit der Geheimtür im Schrank. Das Schloss beobachtete mich, so kam es
mir jedenfalls vor, beäugte mich finster mit seinen zahllosen Fenstern. Ich
hielt den Blick abgewandt und folgte der Hecke, bis ich die Rückseite des
Schlosses erreichte.
    Dort
befand sich ein alter Hühnerstall, der jetzt leer war, und auf der anderen
Seite ein tunnelartiges Gebilde. Als ich näher heranging, erkannte ich, dass
es sich um eine Schutzhütte aus Wellblech handelte. Auf einem verrosteten
Schild - das, wie ich annahm, aus der Zeit stammte, als noch regelmäßig
Führungen stattfanden — war zu lesen: »The Anderson«, und obwohl die Schrift
schon ziemlich verwittert war, konnte man erkennen, dass es sich um
Informationen über die Luftschlacht um England handelte. Eine Bombe, las ich,
war in etwas mehr als einem Kilometer Entfernung eingeschlagen und hatte einen
Jungen auf einem Fahrrad getötet. Die Schutzhütte war 1940 aufgestellt worden, was bedeutete, dass es dieselbe sein
musste, in der meine Mutter während der Luftangriffe gehockt hatte, als sie in
Milderhurst wohnte.
    Es war
niemand in der Nähe, den ich hätte fragen können, also nahm ich an, dass es in
Ordnung war, wenn ich einen Blick hineinwarf. Ich stieg einige steile Stufen
hinunter und befand mich im Innern der rostigen Wellblechhütte. Es war ziemlich
düster, aber durch die offene Tür fiel genug Licht, und ich sah, dass in dem
Raum eine Art Bühne mit Kriegsandenken errichtet worden war. Zigarettenbilder
mit Spitfires und Hurricanes, ein kleiner Tisch mit einem altmodischen
hölzernen Radio, ein Plakat, auf dem Churchill mich mit ausgestrecktem Finger
aufrief: »Verdien dir den Sieg!« Als wäre es wieder das Jahr 1940, als hätte es Fliegeralarm gegeben und ich mich hier unten
in Sicherheit gebracht, darauf wartend, die Flugzeuge über mir zu hören.
    Ich
kletterte wieder hinaus, blinzelte gegen das grelle Sonnenlicht. Die Wolken
rasten über den Himmel, die Sonne war jetzt hinter einem bleichen, weißen Film
verborgen. Ich entdeckte eine kleine Lücke in der Hecke, ein Hügelchen, das
mich zum Sitzen einlud. Aus meiner Umhängetasche nahm ich das Tagebuch meiner
Mutter und schlug es vorne auf. Januar 1940 stand
dort.
     
    Mein
liebes, wunderschönes Tagebuch! Ich habe dich so lange aufbewahrt — schon ein
ganzes Jahr, sogar noch ein bisschen länger. Denn du wurdest mir von Mr. Cavill
geschenkt, nach dem Examen, und er hat gesagt, ich soll dich für etwas ganz
Besonderes benutzen. Er sagt, dass Worte ewig währen und dass ich eines Tages
eine Geschichte schreiben würde, die so ein schönes Buch verdient hätte. Damals
habe ich ihm nicht geglaubt. Ich wusste eigentlich nie, worüber ich schreiben
sollte. Klingt das nicht schrecklich traurig? Ich glaube schon, aber ich meine
es nicht so, ich habe es nur aufgeschrieben, weil es stimmt. Ich wusste nie,
worüber ich schreiben sollte, und ich konnte mir nicht vorstellen, dass sich
das einmal ändern würde. Aber ich habe mich geirrt. Es war ein schrecklicher,
großer, wunderbarer Irrtum. Denn es ist etwas geschehen, und von jetzt an wird
nichts mehr so sein, wie es war.
    Vielleicht
sollte ich als Erstes erwähnen, dass ich dies in einem Schloss schreibe. In
einem richtigen Schloss aus Stein mit einem Turm und vielen gewundenen Treppen.
An den Wänden hängen große Kerzenleuchter mit dicken, über die Jahrzehnte
schwarz gewordenen Wachstropfen. Man könnte meinen, allein dass ich jetzt in
einem Schloss wohne, ist schon ein » Wunder«, und dass es maßlos ist, sich
noch mehr zu wünschen, aber es gibt tatsächlich noch mehr.
    Ich sitze
auf der Fensterbank im Dachzimmer, dem schönsten Platz im ganzen Schloss. Es
ist Junipers Zimmer. Wer ist Juniper, würdest du bestimmt fragen, wenn du
könntest. Juniper ist der unglaublichste Mensch auf der Welt. Sie ist meine
beste Freundin, und ich bin ihre beste Freundin. Juniper hat mir Mut gemacht,
dich zum Schreiben

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