Morton, Kate
...«
»Ich habe
nur von dir gesprochen.«
»Allein?«
»Wir
könnten irgendwo schön zu Mittag essen, nur wir beide. Einen Spaziergang
durchs Dorf machen.« Ich hörte plötzlich nur Rauschen in der Leitung. Ich
senkte die Stimme. »Wir brauchen ja nicht zum Schloss zu gehen, wenn du es
nicht möchtest.«
Stille,
und ich dachte schon, sie hätte aufgelegt, doch dann hörte ich ein leises
Geräusch. Sie war noch da. Und dann hörte ich, dass sie still vor sich hin
weinte, ganz dicht am Telefon.
Erst für
den nächsten Tag hatte ich eine Verabredung mit den Schwestern Blythe im
Schloss, aber laut Vorhersage sollte das Wetter umschlagen, und ich fand es zu
schade, einen sonnigen Nachmittag am Schreibtisch zu vergeuden. Judith Waterman
hatte vorgeschlagen, ich sollte in meinem Essay beschreiben, wie das Anwesen
auf mich wirkte, und so entschloss ich mich, einen Spaziergang zu machen. Auch
diesmal hatte Mrs. Bird mir einen Obstkorb auf den Nachttisch gestellt. Ich
steckte mir einen Apfel und eine Banane ein, außerdem einen Notizblock und
einen Stift. Als ich mich an der Tür noch einmal kurz im Zimmer umsah, fiel
mein Blick auf das Tagebuch meiner Mutter, das still und geduldig auf dem
Schreibtisch lag. »Also gut, Mum«, sagte ich, »gehen wir gemeinsam zum
Schloss«, und stopfte es ebenfalls in meine Umhängetasche.
Als ich
noch klein war, kam es hin und wieder vor, dass meine Mutter nicht zu Hause
war, wenn ich aus der Schule kam, und dann fuhr ich mit dem Bus nach
Hammersmith, um meinen Vater in seiner Kanzlei zu besuchen. Dort suchte ich mir
im Zimmer eines Juniorpartners ein Fleckchen auf dem Teppichboden - oder, wenn
ich Glück hatte, einen Schreibtisch -, wo ich meine Hausaufgaben machte oder
mein Schultagebuch gestaltete oder den Namen meines neuesten Schwarms
schreiben übte. Eigentlich konnte ich mich beschäftigen, womit ich wollte,
solange ich die Finger vom Telefon ließ und niemandem in die Quere kam.
An einem
Nachmittag wurde ich in ein Zimmer geschickt, in dem ich noch nie gewesen war,
durch eine Tür am Ende des Flurs, die mir noch nie aufgefallen war. Es war
klein, kaum größer als ein beleuchteter Wandschrank, und es war in verschiedenen
Brauntönen gestrichen, aber es gab keine kupferfarbenen Spiegelfliesen an den
Wänden und auch keine verglasten Bücherschränke wie in den anderen Zimmern der
Kanzlei. Nur einen kleinen Holztisch, einen Stuhl und ein hohes, schmales Bücherregal.
Auf einem der Regalbretter, neben den dicken Wälzern mit Gesetzestexten,
entdeckte ich etwas Interessantes. Eine Schneekugel, wie man sie in jedem
Souvenirladen findet: eine winterliche Szene mit einer Berghütte auf einem von
Kiefern bestandenen Hügel und Schneeflocken rundherum.
Die Regeln
in der Kanzlei meines Vaters waren eindeutig. Nichts anfassen! Aber ich konnte
nicht widerstehen. Die Kugel faszinierte mich: Sie war ein zaghafter Versuch
von Romantik in einer Welt in Beigebraun, eine Tür im Schrankrücken, eine
unwiderstehliche Kindheitserinnerung. Ehe ich wusste, wie mir geschah, stand
ich auf einem Stuhl, die Kugel in der Hand, schüttelte sie und sah zu, wie die
Schneeflocken immer und immer wieder auf die kleine Welt niederrieselten, die
von der Welt außerhalb der Glaskugel nichts ahnte. Ich weiß noch, dass ich mich
danach sehnte, in der Kugel zu sein, zusammen mit der Frau und dem Mann in dem
Häuschen an einem der golden erleuchteten Fenster zu stehen, oder zusammen mit
den Kindern den rotbraunen Schlitten zu schieben, an einem sicheren Ort zu
sein, der nichts kannte von dem Lärm und dem Gehetze draußen.
Genauso
fühlte ich mich, als ich mich Schloss Milderhurst näherte. Während ich den
Hügel hochging, konnte ich beinahe spüren, wie die Luft um mich herum sich
veränderte, als würde ich eine unsichtbare Glaswand in eine andere Welt
durchschreiten. Vernünftige Menschen würden nicht ernsthaft behaupten, dass
Häuser oder Menschen sie magisch anziehen. Aber in jener Woche begann ich zu
glauben - und ich glaube es noch heute -, dass in Schloss Milderhurst auf die
eine oder andere Weise magische Kräfte am Werk waren. Ich hatte es bei meinem
ersten Besuch gespürt, und ich spürte es wieder an jenem Nachmittag. Ein
Lockruf. Als würde das Schloss mich rufen.
Ich nahm
nicht denselben Weg wie beim letzten Mal, sondern durchquerte die Wiese bis
zur Zufahrt, ging über die kleine Steinbrücke und dann über eine etwas größere,
bis das Schloss sich vor mir hoch und majestätisch erhob. Ich
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