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Morton, Kate

Morton, Kate

Titel: Morton, Kate Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die fernen Stunden
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nicht die,
von denen er es angenommen hatte: Diese Welt voller Bomben und Kugeln, das
Gewehr in seiner Hand, die Überquerung des tückischen, finsteren Meers in
lecken Schiffen und das monatelange Dahinsiechen in Krankenhäusern, wo die
sterile Sauberkeit den Geruch nach Blut überdeckte und von Kindern, die im
Bombenhagel verbrannt waren - das waren grausige Produkte der Fantasie. In der wirklichen Welt, durchfuhr es ihn mit überwältigender,
kindlicher Freude, war nämlich alles in Ordnung, weil sein Vater noch lebte. Es
konnte nicht anders sein, denn jemand rief ihn beim Namen. »Mr. Cavill!«
    Tom drehte
sich um. Ein Mädchen winkte ihm zu, das ihm bekannt vorkam. Sie ging in der Art
junger Mädchen, die älter wirken wollen - die Schultern gestrafft, das Kinn
vorgereckt, die Handgelenke nach außen gedreht -, und konnte doch ihre
kindliche Aufregung nicht verbergen. Sie war von einer Parkbank aufgesprungen
und kam durch die Absperrung gelaufen, wo zuvor der schmiedeeiserne Zaun
gestanden hatte, aus dem jetzt Nieten, Kugeln und Flugzeugtragflächen
hergestellt wurden.
    »Hallo,
Mr. Cavill«, sagte sie atemlos, als sie vor ihm stehen blieb. »Sie sind ja wieder
zurück!«
    Die
Hoffnung, seinen Vater zu erblicken, zerstob; die Freude und Erleichterung
lösten sich in nichts auf. Tom stieß einen erstickten Seufzer aus, als er
begriff, dass er Mr. Cavill war und dass dieses Mädchen, das vor ihm auf dem
Pflaster stand und ihn durch ihre Brille anblinzelte, eine Schülerin von ihm
war, oder besser gesagt, eine ehemalige Schülerin von ihm. Aus einer Zeit, als
er noch Schüler hatte, als er noch mit lächerlichem Pathos von hehren Idealen
gesprochen hatte, die er selbst nicht einmal im Ansatz verstand. Tom wand sich
innerlich, als er daran zurückdachte, wie er einmal gewesen war.
    Meredith.
Jetzt fiel es ihm wieder ein. So hieß sie, Meredith Baker, aber sie war
gewachsen, seit er sie das letzte Mal gesehen hatte. Sie war kein kleines
Mädchen mehr; sie war hoch aufgeschossen und stolz auf jeden Zentimeter. Er
musste lächeln, rang sich ein Hallo ab, und dann durchströmte ihn ein angenehmes
Gefühl, das er nicht sofort einordnen konnte, etwas, das mit dem Mädchen, mit
Meredith zu tun hatte und mit dem letzten Mal, als er ihr begegnet war.
Stirnrunzelnd durchforstete er sein Gedächtnis, bis das Bild vor ihm
auftauchte, das dieses angenehme Gefühl hervorgerufen hatte: ein heißer Tag,
ein runder Badeteich, eine junge Frau.
    Und da sah
er sie. Die junge Frau vom Badeteich, leibhaftig hier in London, und ganz kurz
hatte er das Gefühl, dass seine Fantasie ihm einen Streich spielte. Wie sollte
es sonst sein? Die junge Frau seiner Träume, die er so oft vor sich gesehen
hatte, strahlend, schwebend, lächelnd, während er durch Frankreich marschiert
war; als er unter dem Gewicht seines toten Kameraden Andy zusammengebrochen
war, den er wer weiß wie lange auf den Schultern getragen hatte; als die Kugel
ihn erwischt hatte und seine Knie nachgegeben hatten und sein Blut den Erdboden
in der Nähe von Dünkirchen zu färben begann ...
    Kopfschüttelnd
schaute er sie an, während er im Stillen bis zehn zählte.
    »Das ist
Juniper Blythe«, sagte Meredith an ihrem obersten Blusenknopf fingernd und sah
die junge Frau schmunzelnd an. Thomas folgte ihrem Blick. Juniper Blythe. Ja,
natürlich, so hieß sie.
    Dann
lächelte sie ihn mit erstaunlicher Offenheit an, und ihr Gesicht war wie
verwandelt. Er hatte das
Gefühl, verwandelt zu sein, als wäre er für den Bruchteil einer Sekunde wieder
jener junge Mann, der an einem heißen Tag, bevor der Krieg begann, an einem
glitzernden Teich stand. »Hallo«, sagte sie.
    Tom nickte
als Erwiderung, weil ihm die Worte nicht über die Lippen wollten.
    »Mr.
Cavill war mein Lehrer«, sagte Meredith. »Du hast ihn einmal in Milderhurst
gesehen.«
    Tom
musterte Juniper verstohlen, während sie Meredith anblickte. Sie war keine
schöne Helena. Wieder fielen ihm die zu weit auseinanderstehenden Augen auf,
das zu lange Haar, die Lücke zwischen den Schneidezähnen. Doch was bei allen
anderen Frauen als Makel gegolten hätte, bei ihr wirkte es wie eine
Extravaganz, eine Steigerung ihrer Schönheit. Es war ihre besondere Art der
Lebhaftigkeit, die sie zu etwas Besonderem machte, dachte er. Sie war eine
unnatürliche Schönheit, und doch war sie vollkommen natürlich. Strahlender,
erhabener als alles andere.
    »Am
Badeteich«, sagte Meredith gerade. »Erinnerst du dich? Er war gekommen, um

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