Morton, Kate
ihn »geküsst« habe und dass die Geschichte
ihm plötzlich als Ganzes vor Augen gestanden habe. Vielleicht ist gerade das
der Grund, wieso der Modermann bis heute
nichts von seiner Faszination verloren hat, ja geradezu zu einer modernen
Legende wurde. Über die Entstehung und die Vorgeschichte des Romans wird in
literaturwissenschaftlichen Kreisen nach wie vor lebhaft diskutiert, aber was
die Geschichte inspiriert hat, gehört immer noch zu den literarischen Rätseln
des zwanzigsten Jahrhunderts.
Ein
literarisches Rätsel. Ein Schauder kroch mir über den Rücken, als ich die
Worte atemlos wiederholte. Ich liebte den Modermann wegen der Geschichte und wegen der Gefühle, die die
Worte und Wendungen in mir auslösten, wenn ich sie las, aber zu wissen, dass
die Entstehung der Geschichte geheimnisumwittert war, machte die ganze Sache
noch besser.
Raymond
Blythe hatte als Autor bereits in hohem Ansehen gestanden, aber der ungeheure
literarische und kommerzielle Erfolg von Die wahre Geschichte vom Modermann stellte sein bisheriges Werk in
den Schatten, und von da an war er nur noch bekannt als der Autor eines der
Lieblingsbücher der Nation. Die Aufführung des Modermann als Theaterstück im Londoner West End im Jahr 1924 bescherte ihm ein noch größeres Publikum, aber obwohl
seine Leser ihn immer wieder darum baten, weigerte sich Raymond Blythe
beharrlich, eine Fortsetzung zu schreiben. Ursprünglich war der Roman Blythes
Töchtern Persephone und Seraphina gewidmet, aber in späteren Ausgaben wurden
in einer zweiten Zeile die Initialen seiner beiden Ehefrauen hinzugefügt: MB
und OS.
Denn
parallel zu seinem beruflichen Erfolg war Raymond Blythe auch in privater
Hinsicht ein neues Glück beschieden. 1919 hatte er
wieder geheiratet, eine Frau namens Odette Silverman, die er in Bloomsbury auf
einer Party bei Lady Londonderry kennengelernt hatte. Miss Silverman stammte
aus sehr einfachen Verhältnissen, aber ihr Talent als Harfenistin verschaffte
ihr Zugang zu gesellschaftlichen Kreisen, die ihr andernfalls unzugänglich gewesen
wären. Die Verlobungszeit war sehr kurz, und die Heirat verursachte einen
kleinen Skandal wegen des fortgeschrittenen Alters des Bräutigams und der
Jugend der Braut - er war über fünfzig und sie erst achtzehn und damit nur
fünf Jahre älter als seine Töchter aus erster Ehe - und aufgrund ihrer
unterschiedlichen Herkunft. Es ging das Gerücht, Odette Silverman habe Raymond
Blythe mit ihrer Jugend und Schönheit den Kopf verdreht. Das Paar wurde
feierlich in der Kapelle von Milderhurst getraut, die seit der Beerdigung von
Muriel Blythe zum ersten Mal wieder geöffnet wurde.
1922 brachte Odette eine Tochter zur Welt. Das Kind wurde auf
den Namen Juniper getauft, und auf den zahlreichen Fotos, die aus jener Zeit
existieren, ist zu sehen, wie blond und hellhäutig die kleine Juniper war.
Trotz scherzhafter Bemerkungen darüber, dass immer noch kein Stammhalter da
war, spricht aus Raymond Blythes Briefen seine große Freude über den
Familienzuwachs. Leider war auch diesmal das Glück nur kurzlebig,
Gewitterwolken ballten sich bereits am Horizont. Im Dezember 1924 starb Odette an Komplikationen im frühen Stadium einer
zweiten Schwangerschaft.
Erwartungsvoll
blätterte ich weiter, um mir die Fotos anzusehen. Auf dem ersten war Juniper
Blythe vielleicht vier Jahre alt. Sie saß mit ausgestreckten Beinen da, die
Füße über Kreuz. Ihre Füße waren nackt, und an ihrem Gesichtsausdruck ließ sich
erkennen, dass man sie in einem Augenblick stiller Nachdenklichkeit überrascht
hatte - und dass sie sich nicht darüber freute. Sie schaute mit ihren
mandelförmigen Augen, die ein ganz klein wenig zu weit auseinanderstanden, in
die Kamera.
Zusammen
mit ihrem feinen, blonden Haar, den Sommersprossen auf ihrer Stupsnase und dem
kleinen Schmollmund erzeugten diese Augen eine Aura zu früh erworbenen Wissens.
Auf dem
nächsten Foto war Juniper als junge Frau zu sehen, so als wäre dazwischen keine
Zeit vergangen, und dieselben katzenartigen Augen schauten jetzt aus einem
Erwachsenengesicht in die Kamera. Es war ein Gesicht von großer, wenn auch
eigenwilliger Schönheit. Ich erinnerte mich an die Beschreibung meiner Mutter,
wie die anderen Frauen Platz gemacht hatten, als Juniper den Gemeindesaal
betrat, die Atmosphäre, die sie um sich her verbreitete. Als ich jetzt das Foto
betrachtete, konnte ich mir das gut vorstellen. Sie wirkte neugierig und
geheimnisvoll, zerstreut und wachsam
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