Morton, Kate
zugleich. Ihre Züge, die Andeutung von
Emotionalität und Intelligenz, ergaben ein faszinierendes Gesamtbild. Ich
suchte in der Bildunterschrift nach dem Datum: April 1939. Das Jahr, in dem meine zwölfjährige Mutter sie
kennenlernen sollte.
Nach dem
Tod seiner zweiten Frau vergrub Raymond Blythe sich angeblich in seine Arbeit,
aber abgesehen von einigen wenigen Kolumnen für die Times veröffentlichte er nie wieder eine Zeile von Bedeutung.
Kurz vor seinem Tod arbeitete Blythe noch einmal an einem Buchprojekt. Dabei
handelte es sich jedoch nicht, wie viele gehofft hatten, um eine Fortsetzung
vom Modermann, sondern um
eine umfängliche wissenschaftliche Abhandlung über die nicht-lineare
Beschaffenheit der Zeit, in der er sich über seine den Lesern vom Modermann bekannte Theorie ausließ, dass die Vergangenheit
die Gegenwart durchdringen kann. Die Abhandlung wurde nie vollendet.
In seinen
letzten Lebensjahren verschlechterte sich Blythes Gesundheitszustand zusehends,
auch mental, denn er war davon überzeugt, dass der Modermann aus seiner berühmten Geschichte auferstanden sei,
um ihn zu verfolgen und zu quälen. Wenn man an die Tragödien denkt, denen so
viele seiner Lieben zum Opfer gefallen waren, war der Gedanke, mochte er auch
abstrus sein, so unbegreiflich nicht, und nicht wenige Besucher des Schlosses
teilten Blythes Ansicht. Natürlich entspricht es der allgemeinen Vorstellung,
dass ein historisches Schloss von einem Spuk heimgesucht wird, und es ist
begreiflich, dass ein so beliebter Roman wie Die wahre Geschichte vom Modermann, der sich innerhalb der Mauern von
Schloss Milderhurst abspielt, dieser Vorstellung reichlich Nahrung bietet. Ende
der Dreißigerjahre konvertierte Raymond Blythe zum Katholizismus, und in
seinen letzten Lebensjahren war der Priester der einzige Besucher, den Blythe
auf seinem Schloss noch empfing. Er starb am 4. April 1941, nach einem
Sturz vom Burgturm, womit er dasselbe Schicksal erlitt wie seine Mutter
fünfundsechzig Jahre zuvor.
Am Ende
des Kapitels war ein weiteres Foto von Raymond Blythe abgedruckt. Es war ganz
anders als das erste - der lächelnde junge Vater mit den Zwillingen auf den
Knien -, und während ich es betrachtete, fiel mir mein Gespräch mit Alice im
Buchladen wieder ein. Vor allem ihre Bemerkung, dass die psychischen
Störungen, unter denen Juniper Blythe litt, in der Familie lagen. Denn dieser
Raymond Blythe hatte nichts mehr von der zufriedenen Gelassenheit, die mich auf
dem ersten Foto so berührt hatte. Im Gegenteil, er schien von Ängsten geplagt:
In seinen Augen lag Argwohn, der Mund war angespannt, das Kinn verkrampft. Das
Foto war auf das Jahr 1939 datiert,
da war Raymond zweiundsiebzig, aber es war nicht allein das Alter, das die
tiefen Furchen in sein Gesicht gegraben hatte. Je länger ich das Foto betrachtete, umso mehr war ich davon überzeugt.
Beim Lesen hatte ich den Eindruck, dass die Autorin es metaphorisch gemeint
hatte, als sie Raymond Blythes Verfolgungswahn beschrieb, aber jetzt wurde mir
klar, dass das nicht der Fall war. Der Mann auf dem Foto trug die
angstverzerrte Maske anhaltender innerer Qualen.
Die
Abenddämmerung senkte sich über das Land um mich herum, füllte die Senken
zwischen den Hügeln und Wäldern von Milderhurst, glitt über die Wiesen und
schluckte alles Licht. Das Foto von Raymond Blythe verschwamm in der Dunkelheit,
und ich schlug das Buch zu. Aber ich machte mich nicht auf den Rückweg. Noch
nicht. Ich gönnte mir noch einen Blick durch die Lücke zwischen den Bäumen auf
das Schloss, das auf dem Hügel thronte, eine schwarze Masse unter einem
tintenblauen Himmel. Mit klopfendem Herzen stellte ich mir vor, wie ich am
nächsten Morgen seine Schwelle übertreten würde.
Die
Figuren im Schloss waren an jenem Nachmittag für mich zum Leben erwacht, beim
Lesen waren sie mir unter die Haut gekrochen, sodass ich das Gefühl hatte, sie
schon immer gekannt zu haben. Obwohl mich der pure Zufall nach Milderhurst
geführt hatte, fühlte es sich richtig an, dass ich hier war. Dasselbe hatte ich
empfunden, als ich zum ersten Mal Sturmhöhe und Jane Eyre und Bleak House gelesen
hatte. Als würde ich die Geschichte schon kennen, als würde sie etwas über die
Welt bestätigen, das ich schon immer geahnt hatte, als hätte das Buch die ganze
Zeit auf mich gewartet.
Verklungene Stimmen eines Gartens
Wenn ich die
Augen schließe, sehe ich immer noch den glitzernden Himmel vor mir: das
klare, strahlende Blau, das
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