Morton, Kate
Gesicht, verschwand jedoch wieder, als sie
laut in ihre Hand hustete. »Also gut«, sagte sie, nachdem sie sich wieder
erholt hatte, »ich bin in einer Stunde wieder hier.«
Ich
nickte, aber plötzlich wünschte ich, sie würde noch ein wenig bleiben. »Danke«,
sagte ich, »ich bin Ihnen wirklich sehr dankbar für die Möglichkeit ...«
»Passen Sie
mit der Tür auf. Lassen Sie sie nicht hinter sich zufallen.«
»In
Ordnung.«
»Sie lässt
sich nicht von innen öffnen. So haben wir mal einen Hund verloren.« Sie verzog
den Mund zu einer Grimasse, aber es kam kein Lächeln zustande. »Ich bin eine
alte Frau, wissen Sie. Man kann sich nicht darauf verlassen, dass ich mich erinnere,
wo ich Sie zurückgelassen habe.«
Der Raum
war lang und schmal mit einer niedrigen Gewölbedecke. Ich umklammerte die
Lampe und trug sie vor mir her, sodass der Lichtschein gegen die Wände
flackerte, als ich mich langsam vorwärtstastete. Percy hatte recht gehabt. Hier
war schon ewig niemand mehr gewesen. Es herrschte eine ganz eigene Stille, wie
in einer Kirche, und mich beschlich das unheimliche Gefühl, von etwas
beobachtet zu werden, das größer war als ich.
Deine
Fantasie geht mit dir durch, ermahnte ich mich. Hier ist
niemand außer dir und den Wänden. Aber das war nur die Hälfte meines
Problems. Schließlich waren das hier nicht irgendwelche Wände, es war das Gemäuer
von Schloss Milderhurst, in dem die fernen Stunden flüsterten und lauerten. Je
tiefer ich in den Raum eindrang, desto mehr verstärkte sich das seltsame,
bedrückende Gefühl. Ein Gefühl unendlichen Verlassenseins. Natürlich lag es an
der Dunkelheit, an meiner Begegnung mit Saffy, an Junipers trauriger
Geschichte.
Aber es
war meine einzige Gelegenheit, Raymond Blythes Kladden zu sehen. Ich hatte eine
Stunde Zeit, dann würde Percy Blythe mich wieder abholen kommen. Ich konnte
nicht davon ausgehen, dass sie mich noch ein zweites Mal ins Familienarchiv
lassen würde, deswegen tat ich gut daran, mich voll zu konzentrieren. Ich
prägte mir jede Einzelheit ein: hölzerne Aktenschränke an beiden Wänden,
darüber - ich hob die Lampe, um besser sehen zu können - Landkarten und
Architektenpläne aus verschiedenen Epochen. Ein Stück weiter hing eine
Sammlung kleiner gerahmter Daguerreotypien.
Es
handelte sich um eine Serie von Porträts, die alle ein und dieselbe Frau
zeigten: Auf einem Bild lag sie leicht bekleidet auf einer Chaiselongue, auf
den anderen blickte sie direkt in die Kamera, bekleidet mit einer
hochgeschlossenen viktorianischen Bluse. Ich beugte mich vor, um ihr Gesicht zu
betrachten, und hielt die Lampe etwas höher. Als ich den Staub wegpustete und
das Gesicht zum Vorschein kam, lief es mir eiskalt über den Rücken. Sie war
schön, aber doch wie eine Gestalt aus einem Albtraum. Weiche Lippen, perfekte
glatte Haut straff über den hohen Wangenknochen, die Zähne groß und glänzend.
Ich hielt die Lampe noch ein bisschen höher, um den unter der Abbildung in
Schreibschrift eingravierten Namen entziffern zu können: »Muriel Blythe« -
Raymonds erste Frau, die Mutter der Zwillinge.
Wie
merkwürdig, dass all ihre Fotos in das Familienarchiv verbannt worden waren.
War es aufgrund von Raymond Blythes Trauer geschehen, oder hatte seine zweite
Frau es aus Eifersucht verfügt? Wie auch immer, ich nahm die Lampe fort und
entließ Muriel Blythe wieder in die Dunkelheit. Da die Zeit nicht reichte, um
jeden Winkel des Raums zu erforschen, entschloss ich mich, mir Raymond Blythes
Kladden vorzunehmen, in der gewährten Stunde so viel wie möglich zu lesen und
dann diesen seltsamen Ort mit seiner bedrückenden Atmos phäre
hinter mir zu lassen. Mit hochgehaltener
Lampe setzte ich meinen Weg fort.
Die Fotos
an den Wänden wurden abgelöst von raumhohen Regalen, und trotz meiner Vorsätze
blieb ich erneut stehen. Es war, als befände ich mich in einer Schatzkammer.
Die Regale waren gefüllt mit allen möglichen Gegenständen: Unmengen von Büchern,
außerdem Vasen und Porzellan, selbst Kristallgläser. Wertvolle Dinge, soweit
ich das beurteilen konnte, kein Trödel oder Schrott. Was all diese Dinge im
Familienarchiv zu suchen hatten, war mir ein Rätsel.
Daran
anschließend entdeckte ich etwas, das sofort meine Neugier erregte. Eine
Sammlung von vierzig oder fünfzig Schachteln, alle in derselben Größe, alle
sorgfältig gestapelt und mit hübschem Papier beklebt - vorwiegend mit Blumenmuster.
Auf einigen befanden sich kleine Etiketten, und ich trat
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