Morton, Kate
vielleicht nicht wieder in London gewesen, aber es war durchaus möglich,
dass sie ihn hier in Kent kennengelernt hatte. Saffy war ihm offenbar nicht
begegnet.
Ein kühler
Luftzug kroch ins Zimmer, und Saffy zog die Strickjacke enger um sich. Mir fiel
auf, dass ihre Haut am Hals gerötet war, dass ihre Wangen glühten; sie bereute
es, mir so viel erzählt zu haben, und jetzt hatte sie es eilig, ihre
indiskreten Bemerkungen unter den Teppich zu kehren. »Ich will nur sagen, dass
Percy sehr darunter gelitten hat. Es hat sie verändert. Ich war nur froh, als
die Deutschen mit der Vi und der V2 anfingen,
denn da hatte sie wieder eine Aufgabe.« Saffy lachte, aber es klang freudlos.
»Manchmal denke ich, sie hätte nichts dagegen gehabt, wenn der Krieg endlos
weitergegangen wäre.«
Die
Situation war ihr peinlich, und sie tat mir leid. Eigentlich hatte sie wohl
nur ein bisschen Schönwetter machen wollen, nachdem Percy am Tag zuvor so grob
zu mir gewesen war, und es schien mir grausam, sie noch mehr in Verlegenheit zu
bringen. Ich lächelte und versuchte, das Gespräch in andere Bahnen zu lenken.
»Und wie war das bei Ihnen? Haben Sie auch während des Kriegs gearbeitet?«
Ihre Miene
hellte sich auf. »Oh, wir haben alle unseren Beitrag geleistet; allerdings
habe ich nichts annähernd so Aufregendes getan wie Percy. Sie eignet sich
besser zur Heldin. Ich habe genäht und gekocht, solche Dinge eben, und Unmengen
von Socken gestrickt. Auch wenn sie nicht immer gut gelungen sind.« Sie
versuchte sich über sich selbst lustig zu machen, und ich lächelte
pflichtschuldigst, während mir das Bild eines jungen Mädchens in den Sinn kam,
das im Dachzimmer fror und sich zu klein ausgefallene Socken über die Füße und
die Hand streifte, die sie nicht zum Schreiben brauchte. »Ich hätte beinahe
eine Stellung als Gouvernante angenommen.« »Wirklich?«
»Ja. Bei
Leuten mit Kindern, die für die Dauer des Kriegs nach Amerika gegangen sind.
Sie hatten mir die Stelle angeboten, aber dann musste ich sie doch ablehnen.«
»Wegen des
Kriegs?«
»Nein. Der
Brief traf genau zu der Zeit ein, als Juniper ihre schwere Enttäuschung
erlebte. Nun sehen Sie mich nicht so an! Nein, ich bereue es nicht. Ich halte
grundsätzlich nichts davon, irgendetwas zu bereuen, das bringt doch nichts,
oder? Ich hätte es nicht über mich gebracht, zumindest damals. Ich wäre ja sehr
weit weg gewesen, und das bei Junipers Zustand. Wie hätte ich sie alleinlassen
können?«
Ich habe
keine Geschwister und kenne mich mit so etwas nicht aus. »Hätte Percy denn
nicht ...?«
»Percy hat
viele Fähigkeiten, aber sich um Kinder und Kranke zu kümmern gehört nicht
dazu. Dafür braucht man eine gewisse« - ihre Fingerspitzen strichen über den
alten Kaminschirm, während sie nach dem richtigen Ausdruck suchte -»Sanftmut,
glaube ich. Nein. Ich hätte Juniper nicht einfach der alleinigen Obhut von
Percy überlassen können. Deshalb habe ich einen Brief geschrieben und die
Stelle abgelehnt.«
»Das ist
Ihnen sicherlich schwergefallen.«
»Wenn es
um die Familie geht, hat man keine Wahl. Juniper war meine kleine Schwester.
Ich hätte sie nicht alleingelassen in dem Zustand. Und außerdem, selbst wenn
der Mann wie geplant erschienen wäre, wenn sie geheiratet hätten und weggezogen
wären, wäre ich wohl dennoch nicht weggegangen.« »Und warum nicht?«
Sie drehte
anmutig den Kopf zur Seite und wich meinem Blick aus.
Ein
Geräusch im Korridor, genau wie zuvor, das gedämpfte Hüsteln und das Pochen des
Gehstocks, der näher kam.
»Percy
...« Und in dem Augenblick, bevor sie lächelte, erhaschte ich die Antwort auf
meine Frage. In ihrem gequälten Gesichtsausdruck sah ich das lebenslange
Gefangenendasein. Sie waren Zwillinge, zwei Hälften eines Ganzen; aber während
die eine sich danach gesehnt hatte, zu entkommen und ihre eigene Existenz zu
führen, hatte die andere sich dem Verlassenwerden widersetzt. Und Saffy, deren
Sanftheit sie schwach und deren Mitgefühl sie freundlich machte, war unfähig
gewesen, sich daraus zu befreien.
Das Familienarchiv und eine Entdeckung
Ich folgte
Percy Blythe durch mehrere Flure und Treppengänge, hinab in die notdürftig
erleuchteten Eingeweide des Hauses. Percy war sonst schon nicht redselig, und
heute war sie entschieden frostig. Eine Wolke von abgestandenem Tabakqualm
umgab sie, so intensiv, dass ich einen Schritt Abstand zwischen uns hielt. Ihr
Schweigen kam mir durchaus gelegen; nach meiner Unterhaltung mit
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