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Morton, Kate

Morton, Kate

Titel: Morton, Kate Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die fernen Stunden
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näher, um eins davon
in Augenschein zu nehmen. »Das wiedergewonnene Herz - Ein Roman von Seraphina
Blythe«. Ich hob den Deckel und lugte hinein. Die Schachtel enthielt einen dicken
Stapel maschinenbeschriebener Seiten: ein Manuskript. Mir fiel ein, dass meine
Mutter erzählt hatte, alle Mitglieder der Familie Blythe, mit Ausnahme von
Percy, seien Schriftsteller gewesen. Ich hob die Lampe, betrachtete staunend
die Sammlung von Schachteln und musste lächeln. Das waren Saffys Geschichten.
Offenbar war sie sehr produktiv gewesen. Aber es war bedrückend, all diese
Werke in diesem Verlies zu sehen: Geschichten und Träume von Menschen und
Orten, mit viel Eifer und Fleiß ersonnen, nur um dann für Jahrzehnte im Dunkeln
zu liegen und zu Staub zu zerfallen. Auf einem anderen Etikett stand: »Hochzeit
mit Matthew de Courcy«. Die Lektorin in mir konnte nicht anders: Ich hob den
Deckel und nahm die Seiten heraus. Aber das war kein Manuskript, es sah eher
nach einer Materialsammlung aus. Alte Zeichnungen - Skizzen von Hochzeitskleidern,
Blumenarrangements -, Zeitungsausschnitte, in denen über diverse Hochzeiten
der besseren Gesellschaft berichtet wurde, hingekritzelte Notizen über den
Ablauf eines Hochzeitsfests und schließlich ganz unten eine schön gestaltete
Karte aus dem Jahre 1924, auf der
die Verlobung von Seraphina Grace Blythe mit Matthew John de Courcy angekündigt
wurde.
    Ich legte
alles wieder zurück in die Schachtel. Es handelte sich tatsächlich um eine
Materialsammlung, aber nicht für einen Roman. Diese Schachtel enthielt die
Planung für Saffys Hochzeit, die nie stattgefunden hatte. Hastig legte ich den
Deckel wieder auf die Schachtel und trat einen Schritt zurück, denn ich kam
mir plötzlich vor wie ein Eindringling. Allmählich begriff ich, dass jeder
Gegenstand in diesem Raum das Fragment einer größeren Geschichte war, die
Lampen, die Vasen, die Bücher, die Reisetasche, Saffys blumenverzierte Schachteln.
Das Familienarchiv war wie eine Grabstätte in der Antike. Ein dunkles, kühles
Pharaonengrab, in dem wertvolle Dinge dem Vergessen anheimgegeben waren.
    Als ich
schließlich den Schreibtisch am Ende des Raums erreichte, hatte ich das
Gefühl, einen Marathonlauf durch Alices Wunderland hinter mir zu haben. Ich
drehte mich um und stellte überrascht fest, dass die Glühbirne und die Tür -
die ich vorsichtshalber mit einer Holzkiste gesichert hatte - sich höchstens
zehn, zwölf Meter hinter mir befanden. Raymond Blythes Kladden lagerten an der
Stelle, die Percy Blythe mir genannt hatte, und genau so, wie sie es mir beschrieben
hatte: lieblos in Kisten verstaut, als wäre jemand in sein Arbeitszimmer marschiert
und hätte alles wahllos eingepackt und dann hier unten deponiert. Ich konnte
gut verstehen, dass man im Krieg andere Sorgen hatte; dennoch fand ich es
merkwürdig, dass sich die Zwillinge während der vergangenen Jahrzehnte nie die
Zeit genommen hatten, hier unten Ordnung zu schaffen. Raymond Blythes Kladden,
seine Tagebücher und Briefe, hatten es verdient, in irgendeiner Bibliothek
ausgestellt zu werden, geschützt und gewürdigt, zugänglich für die Fachwelt der
kommenden Jahrzehnte. Ich hätte gedacht, dass gerade Percy, die so sehr auf die
Nachwelt bedacht war, ein Interesse daran haben müsste, das Vermächtnis ihres
Vaters zu bewahren.
    Ich
stellte die Lampe auf dem Schreibtisch ab, weit genug weg, damit ich sie nicht
aus Versehen umstieß. Dann zog ich die Schachteln unter dem Tisch hervor, hob
sie eine nach der anderen auf den Stuhl, durchstöberte sie, bis ich die Kladden
aus den Jahren 1916 bis 1920 gefunden hatte. Raymond Blythe hatte sie zum Glück mit
Jahreszahlen gekennzeichnet, und es dauerte nicht lange, bis das Jahr 1917 aufgeschlagen vor mir lag. Ich nahm mein Notizheft aus
meiner Umhängetasche und notierte mir alles, was für meinen Essay nützlich
sein konnte. Immer wieder hielt ich inne, um zu würdigen, dass ich hier tatsächlich
seine Kladden vor mir hatte, dass diese geschnörkelte Schrift, die Ideen und
Gefühle tatsächlich von diesem bedeutenden Autor stammten.
    Wie soll
ich mit Worten den unglaublichen Augenblick beschreiben, als ich jene
schicksalhafte Seite aufschlug und eine Veränderung der Handschrift unter
meinen Fingerkuppen spürte? Die Schrift wirkte schwerer, entschlossener, als
wäre sie schneller geschrieben worden: Zeile für Zeile, Seite für Seite, und
als ich mich tiefer beugte, um die Handschrift zu entziffern, wurde mir
bewusst, dass ich

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