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Morton, Kate

Morton, Kate

Titel: Morton, Kate Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die fernen Stunden
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hier den ersten Entwurf des Modermann vor mir
hatte. Fünfundsiebzig Jahre später war ich Zeugin der Geburt eines Klassikers.
    Ich
überflog die Seiten, verschlang den Text und registrierte die kleinen
Abweichungen von der publizierten Fassung, wie ich sie in Erinnerung hatte.
Endlich gelangte ich zum Schluss der Geschichte, und obwohl ich wusste, dass
ich das nicht hätte tun sollen, legte ich meine Hand flach auf die letzte
Seite, schloss die Augen und konzentrierte mich auf die Abdrücke der Feder auf
dem Papier unter meiner Haut.
    Und in
diesem Moment fühlte ich es. Die feine Erhebung, die sich ungefähr zwei
Zentimeter vom äußeren Rand entfernt über die Seite zog. Etwas steckte zwischen
dem Lederrücken des Schreibhefts und der letzten Seite. Ich blätterte die Seite
um und fand ein steifes Stück Papier mit wellenförmig gezacktem Rand, wie man
es von teurem Briefpapier kennt. Es war in der Mitte gefaltet.
    Wie hätte
ich widerstehen können? Briefe ungelesen zu lassen liegt nicht in meiner
Natur, und als ich ihn entdeckte, juckte es mich auch schon in den Fingern.
Ich spürte Blicke auf mir, Blicke im Dunkeln, die mich drängten, das Blatt
auseinanderzufalten.
    Der Brief
war säuberlich von Hand geschrieben, aber die Tinte war verblasst, und ich
musste das Blatt nah ans Licht halten, um die Worte entziffern zu können. Der
Text begann mitten in einem Satz, offenbar handelte es sich um ein einzelnes
Blatt aus einem längeren Brief:
     
    ... muss
ich Dir nicht erst sagen, dass es eine wunderschöne Geschichte ist. Nie zuvor
hat Dein Schreiben den Leser auf eine so lebhafte Reise mitgenommen. Die
Sprache und die Wortwahl sind ausgezeichnet, und die Geschichte selbst fesselt
mit einer fast unheimlichen Vorahnung, dem ewigen Streben des Menschen, seine
Vergangenheit abzustreifen und Verfehlungen zu vergessen. Das Mädchen Jane ist
ein besonders anrührendes Geschöpf, und ihre Situation kurz vor dem Erwachsen
werden ist überzeugend dargestellt.
    Allerdings
konnte ich beim Lesen des Manuskripts nicht umhin, auffallende Ähnlichkeiten
mit einer anderen Geschichte zu bemerken, mit der wir beide sehr vertraut
sind. Aus diesem Grund und weil ich weiß, dass Du ein anständiger und freundlicher
Mann bist, muss ich Dich inständig bitten, sowohl Dir selbst als auch der
betreffenden Person zuliebe Die wahre Geschichte vom Modermann nicht zu veröffentlichen. Du weißt so gut wie ich, dass es nicht Deine
Geschichte ist. Es ist noch nicht zu spät, das Manuskript zurückzuziehen.
Solltest Du das jedoch nicht tun, werden die Folgen schrecklich ...
     
    Ich drehte
das Blatt um, aber da war nichts mehr. Ich suchte zwischen den übrigen Seiten
nach dem Rest. Blätterte zurück, hielt die Kladde sogar am Rücken und
schüttelte sie vorsichtig. Nichts.
    Aber was
hatte das zu bedeuten? Welche Ähnlichkeiten? Welche andere Geschichte? Welche
Folgen? Und von wem konnte eine solche Warnung stammen?
    Schritte
im Korridor. Ich saß wie versteinert da und lauschte. Irgendjemand kam näher.
Mit pochendem Herzen hielt ich den Brief zwischen den Fingerspitzen.
    Ich
zögerte kurz, schob ihn dann schnell in mein Notizheft und klappte es zu. Als
ich mich umdrehte, sah ich die Silhouette von Percy Blythe mit ihrem Gehstock
im Türrahmen.
     
    Ein tiefer Sturz
     
    Wie ich
zum Bauernhaus zurückgekommen bin, weiß ich nicht; ich kann mich nicht an eine
Sekunde des Fußwegs erinnern. Wahrscheinlich habe ich es gerade noch geschafft,
mich von Saffy und Percy zu verabschieden und wie benommen den Hügel
hinunterzustolpern, ohne größeren körperlichen Schaden zu nehmen. Ich konnte
nur noch an diesen Brief denken, den ich entwendet hatte. Ich musste unbedingt
sofort mit jemandem reden. Wenn ich richtig verstanden hatte - und der Brief
war nicht gerade missverständlich formuliert -, beschuldigte jemand Raymond
Blythe des Plagiats. Wer mochte diese rätselhafte Person sein, und auf welche
frühere Geschichte bezog sie sich? Wer auch immer behauptet hatte, Raymond
Blythes Manuskript zu kennen, musste es gelesen und den Brief geschrieben
haben, bevor das Buch 1918 veröffentlicht
worden war; diese Tatsache engte zwar die Möglichkeiten ein, half mir aber noch
nicht viel weiter. Ich hatte nicht die geringste Vorstellung, an wen das
Manuskript geschickt worden sein konnte. Das heißt, eine Vorstellung hatte ich
schon, immerhin habe ich mit dem Publizieren von Büchern zu tun. Das
Manuskript musste von Verlegern, Lektoren und auch von vertrauten

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