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Morton, Kate

Morton, Kate

Titel: Morton, Kate Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die fernen Stunden
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erwartete Percy Blythe mich bereits und tat, als würde sie aus einem
Blumenkübel an der Eingangstreppe Unkraut zupfen. Da ich sie gesehen hatte,
bevor sie mich bemerkte, wusste ich, dass sie nur so tat. Bis ihr sechster
Sinn ihr meine Anwesenheit verriet. Sie richtete sich auf, lehnte sich gegen
den steinernen Treppenpfosten, die Arme vor der Brust verschränkt, den Blick
auf irgendetwas in der Ferne gerichtet. So still und bleich, wie sie dastand,
wirkte sie wie eine Statue - allerdings keine von der Art, wie man sie sich
vors Haus stellen würde.
    »Ist Bruno
wieder aufgetaucht?«, rief ich ihr zu.
    Sie machte
ein Gesicht, als wunderte sie sich, dass ich schon da war, und rieb die Finger
gegeneinander, sodass winzige Erdbröckchen zu Boden fielen. »Viel Hoffnung habe
ich nicht. Vor allem nach diesem plötzlichen Kälteeinbruch.« Als ich näher kam,
bedeutete sie mir mit einer einladenden Geste, ihr ins Haus zu folgen. »Kommen
Sie.«
    Im Schloss
war es nicht wärmer als draußen. Die Mauern schienen die kalte Luft
festzuhalten, wodurch der alte Kasten noch grauer, düsterer und unfreundlicher
wirkte als sonst.
    Ich
rechnete damit, dass wir wie üblich den Korridor zum gelben Salon nehmen
würden, aber Percy führte mich zu einer kleinen Tür, die sich versteckt in
einer Nische der Eingangshalle befand.
    »Der
Turm«, sagte sie.
    »Ah.«
    »Für Ihr
Vorwort.«
    Ich nickte
und stieg hinter ihr die enge, gewundene Treppe hoch.
    Mit jeder
Stufe wuchs mein Unbehagen. Natürlich war der Turm für meinen Text wichtig,
aber irgendwie machte mich Percy Blythes Angebot stutzig. Bisher hatte sie sich
immer äußerst reserviert verhalten und war meinem Wunsch, mit ihren Schwestern
zu sprechen oder die Kladden ihres Vaters einzusehen, nur widerwillig
nachgekommen. Dass sie mich an diesem Morgen draußen in der Kälte erwartet
hatte, um mir eine Besichtigung des Turms anzubieten, ehe ich sie darum
gebeten hatte - das kam unerwartet, und unerwartete Dinge sind mir meistens
nicht geheuer.
    Wahrscheinlich
schloss ich zu viel aus ihrem Verhalten: Percy Blythe hatte mich ausgesucht für
die Aufgabe, über ihren Vater zu schreiben, und sie war ausgesprochen stolz auf
ihr Schloss. Vielleicht war es so einfach. Oder sie sagte sich, je eher ich zu
sehen bekam, was ich sehen musste, umso eher würde ich mich wieder verziehen
und sie in Ruhe lassen. Aber allen logischen Erklärungsversuchen zum Trotz
nagten Zweifel in mir. Konnte es sein, dass sie wusste, was ich entdeckt hatte?
    Wir waren
auf einem Treppenabsatz aus grob behauenem Stein angekommen, wo man durch eine
Schießscharte im Turm ein Stück des dichten Waldes sehen konnte. Der Cardarker-Wald
war normalerweise ein prächtiger Anblick, aber dieser Ausschnitt wirkte eher
bedrohlich.
    Percy
Blythe stieß eine schmale Rundbogentür auf. »Das Turmzimmer.«
    Auch
diesmal ließ sie mir den Vortritt. Ich betrat den kleinen runden Raum und blieb
auf einem abgewetzten, mit Rußflecken bedeckten Teppich stehen. Als Erstes
fiel mir auf, dass im Kamin frisches Holz aufgeschichtet war, vermutlich in
Erwartung meines Besuchs.
    »So«,
sagte sie und schloss die Tür hinter sich. »Jetzt sind wir allein.«
    Ich bekam
Herzklopfen, ohne recht zu wissen, warum. Es gab keinen Grund, Angst zu haben.
Sie war eine gebrechliche alte Dame, die soeben all ihre Kraft hatte aufbringen
müssen, um die Treppen hochzusteigen. Körperlich hatte ich von ihr nichts zu
befürchten. Und dennoch. Es lag etwas in der Art, wie ihre Augen funkelten, ein
Wille, der stärker war als ihr Körper. Und plötzlich konnte ich nur noch daran
denken, wie tief es bis unten war, dass schon eine ganze Reihe Menschen aus
diesem Fenster in den Tod gestürzt waren ...
    Zum Glück
konnte Percy Blythe meine Gedanken nicht lesen und die Schreckensszenarien
nicht sehen, die in einen Schauerroman gehörten. Mit einer knappen Handbewegung
sagte sie: »Das ist es. Hier hat er gearbeitet.«
    Als ich
sie das sagen hörte, konnte ich endlich meine trüben Gedanken abschütteln und
würdigen, wo ich mich befand. In diesen Bücherregalen, die an die runden Wände
angepasst waren, hatte er seine Lieblingswerke aufbewahrt; an diesem Kamin
hatte er Tag und Nacht gesessen und seine Bücher geschrieben. Ehrfürchtig fuhr
ich mit den Fingern über den Schreibtisch, an dem er den Modermann geschrieben
hatte.
    Der Brief
flüsterte in meiner Brusttasche. Wenn er das Buch denn geschrieben
hat.
    »Es gibt
ein Zimmer«, sagte Percy Blythe, während sie

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