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Morton, Kate

Morton, Kate

Titel: Morton, Kate Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die fernen Stunden
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mit einem Streichholz das
Kaminfeuer anzündete, »hinter der kleinen Tür in der Eingangshalle. Vier
Stockwerke tiefer, aber direkt unter dem Turm. Saffy und ich haben dort
manchmal gesessen, als wir jung waren. Wenn unser Vater arbeitete ...« Es war
ein seltener Moment der Mitteilsamkeit, und ich betrachtete sie gebannt. Als
spürte sie meine Neugier, erschien dieser typische Anflug eines schiefen
Lächelns auf ihrem Gesicht, und sie straffte sich. Sie nickte mir zu und warf
das abgebrannte Streichholz in die Flammen. »Fühlen Sie sich ganz wie zu Hause«,
war alles, was sie sagte. »Sehen Sie sich um.«
    »Danke.«
    »Gehen Sie
aber nicht zu nah ans Fenster, da kann man tief fallen.«
    Ich rang
mir ein Lächeln ab und begann, mir den Raum näher anzusehen. Die Regale waren
ziemlich leer; wahrscheinlich befand sich ihr früherer Inhalt jetzt im
Familienarchiv. Aber es gab noch einige gerahmte Bilder an der Wand. Eins stach
mir besonders ins Auge. Es war eine Radierung, die mir vertraut war: Goyas Der Schlaf
der Vernunft. Ich blieb davor stehen, betrachtete den Mann im
Vordergrund, der - anscheinend verzweifelt - über einem Schreibtisch
zusammengesunken liegt, während um ihn herum fledermausähnliche Ungeheuer
flattern, die aus seinen Träumen aufsteigen und sich davon ernähren.
    »Das hat
unserem Vater gehört«, sagte Percy. Ihre Stimme ließ mich zusammenzucken, aber
ich drehte mich nicht um. Als ich das Bild noch einmal betrachtete, hatte sich
meine Perspektive verändert, sodass ich nicht nur mich selbst in der Glasscheibe
reflektiert sah, sondern auch Percy, die hinter mir stand. »Das Bild hat uns
immer schreckliche Angst eingeflößt.«
    »Das kann
ich gut verstehen.«
    »Unser
Vater meinte, es sei dumm, Angst zu haben. Wir sollten es als Lektion
begreifen.«
    »Und was
für eine Lektion wäre das?« Nun drehte ich mich zu ihr um.
    Sie wies
auf den Sessel am Fenster.
    »Nein,
nein, ich ...«, wieder rang ich mir ein Lächeln ab, »ich stehe lieber.«
    Percy
blinzelte langsam, und zuerst dachte ich, sie würde darauf bestehen, dass ich mich
setzte. Aber sie sagte nur: »Die Lektion, Miss Burchill, lautet: Wenn die
Vernunft schläft, kommen die Ungeheuer der Verdrängung ans Tageslicht.«
    Meine
Hände waren feucht, und Hitze kroch mir die Arme hoch. Sie hatte doch nicht
etwa meine Gedanken gelesen? Sie konnte unmöglich die Ungeheuerlichkeiten
ahnen, die ich mir seit dem Fund des Briefs ausmalte, und ebenso wenig meine
kranke Fantasie, aus dem Fenster gestoßen zu werden.
    »In dieser
Hinsicht hat Goya Freud vorweggenommen.«
    Ich
lächelte gequält, meine Wangen glühten, und ich spürte, dass ich die Spannung,
die Ausweichmanöver nicht mehr länger ertragen konnte. Ich war nicht
geschaffen für solche Spielchen. Wenn Percy Blythe wusste, was ich im
Familienarchiv gefunden hatte, und auch wusste, dass ich es mitgenommen hatte
und versuchen würde, mehr herauszufinden, und wenn das hier alles nur ein
geschickter Trick war, mich dazu zu bringen, meine Täuschung einzugestehen und
mich mit allen Mitteln davon abzuhalten, die Lüge ihres Vaters öffentlich zu machen,
dann hatte sie mich so weit. Mir blieb nichts anderes übrig, als zum Angriff
überzugehen. »Miss Blythe«, sagte ich, »gestern habe ich etwas gefunden. Im
Familienarchiv.«
    Für einen
Moment schien es, als würde sie die Fassung verlieren. Doch sie riss sich
augenblicklich zusammen. Sie blinzelte. »Und? Ich glaube nicht, dass ich es
erraten kann, Miss Burchill. Sie werden mich schon aufklären müssen.«
    Ich griff
in meine Jacke und zog den Brief hervor, bemüht, das Zittern meiner Finger
abzustellen, als ich ihn ihr reichte. Sie nahm eine Lesebrille aus ihrer
Tasche, hielt sie vor die Augen und überflog die Seite. Die Zeit schien
stillzustehen. Sie folgte den Buchstaben mit der Fingerspitze. »Ja«, sagte sie.
»Verstehe.« Sie wirkte beinahe erleichtert, so als wäre meine Entdeckung nicht
das, was sie befürchtet hatte.
    Ich
wartete darauf, dass sie weitersprach, doch als sie schwieg, sagte ich: »Ich
bin ziemlich beunruhigt ...« Ich suchte nach Worten. »Falls irgendein ...
Zweifel daran besteht ... dass der Modermann ...« Ich
konnte mich nicht dazu überwinden, das Wort »plagiiert« auszusprechen. »Wenn
tatsächlich die Möglichkeit besteht, dass Ihr Vater die Geschichte woanders
gelesen hatte«, ich musste schlucken, und der Raum begann vor meinen Augen zu
schwanken, »wie es in dem Brief angedeutet wird, dann muss der Verlag

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