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Morton, Kate

Morton, Kate

Titel: Morton, Kate Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die fernen Stunden
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das
erfahren.«
    Nachdem
sie den Brief gewissenhaft gefaltet hatte, erwiderte sie: »Ich kann Sie
beruhigen, Miss Burchill. Jedes Wort in diesem Buch stammt von meinem Vater.«
    »Aber der
Brief... Sind Sie sich ganz sicher?« Es war ein riesiger Fehler gewesen, ihr
davon zu erzählen. Was hatte ich denn erwartet? Dass sie offen und ehrlich mit
mir sprechen würde? Dass sie mir ihren Segen gab, während ich Nachforschungen
anstellte, die geeignet waren, dem literarischen Ruhm ihres Vaters die
Legitimation zu entziehen? Es war nur natürlich, dass seine Tochter ihm
Rückendeckung geben würde, vor allem eine Tochter wie Percy.
    »Ich bin
mir dessen ganz sicher, Miss Burchill«, sagte sie und sah mir in die Augen. »Ich
war es, die diesen Brief geschrieben hat.«
    »Sie haben ihn
geschrieben?« Ein knappes Nicken.
    »Aber
warum? Warum haben Sie so etwas geschrieben?« Vor allem, wenn es der Wahrheit
entsprach, dass jedes Wort von ihm stammte.
    Sie warf
mir einen verstohlenen Blick zu, den ich schon von ihr kannte, ein Blick, der
verriet, dass sie von Dingen wusste, die ich nicht einmal erahnte. »Im Leben
eines Kindes kommt irgendwann eine Zeit, in der es die Scheuklappen ablegt und
sich bewusst wird, dass seine Eltern nicht gegen menschliche Schwächen gefeit
sind. Dass sie nicht allmächtig sind. Dass sie manchmal Dinge tun aus ganz
eigennützigen Gründen, Dinge, mit denen sie ihre eigenen Ungeheuer nähren. Wir
sind von Natur aus egoistisch veranlagt, Miss Burchill.«
    Meine
Gedanken trieben in einem undurchdringlichen Nebel. Ich wusste nicht, wie eins
mit dem anderen zusammenhing, aber ich nahm an, dass es etwas mit den
verheerenden Konsequenzen zu tun hatte, die ihr Brief vorhergesagt hatte.
»Aber der Brief...«
    »Dieser
Brief hat nichts zu bedeuten«, fauchte sie mit einer wegwerfenden Handbewegung.
»Jetzt nicht mehr. Er ist vollkommen irrelevant.« Sie sah den Brief an, sie
zögerte, doch dann warf sie ihn mit Schwung ins Feuer und zuckte kurz zusammen,
als er knisternd verbrannte. »Ich hatte mich geirrt. Es war allerdings seine
Geschichte.« Sie lächelte bitter. »Auch wenn er es damals selbst nicht wusste.«
    Ich war
völlig verwirrt. Wie konnte er nicht gewusst haben, dass es seine Geschichte
war, und warum sollte Percy etwas anderes angenommen haben? Es ergab einfach
keinen Sinn.
    »Ich habe
einmal eine junge Frau kennengelernt, im Krieg.« Percy Blythe hatte auf dem
Stuhl hinter dem Schreibtisch ihres Vaters Platz genommen und stützte sich auf
die Armlehnen, während sie fortfuhr. »Sie arbeitete bei der Regierung, sie begegnete
Churchill hin und wieder auf dem Flur. Er hatte dort ein Schild anbringen
lassen mit der Aufschrift: >Bitte nehmen Sie zur Kenntnis, dass es für
Niedergeschlagenheit in diesem Haus keinen Platz gibt und die Möglichkeit eines
Scheiterns nicht in Betracht gezogen wird. Wir leugnen die Existenz von
beidem.< Sie saß einen Moment schweigend da, das Kinn vorgereckt und die
Augen schmal, während die Worte im Raum schwebten. In der Tabakwolke, mit ihrem
säuberlich geschnittenen Haar, ihren feinen Gesichtszügen und in ihrer
Seidenbluse wirkte sie fast so, als sei der Zweite Weltkrieg noch nicht vorüber.
»Was halten Sie davon?«
    Ich wusste
nicht, was sie von mir hören wollte. Mir fiel nur eine Statistik ein, die ich
einmal irgendwo gelesen hatte, dass in Kriegszeiten die Selbstmordrate sinkt;
dass die Menschen im Krieg viel zu sehr mit dem Überleben beschäftigt sind, um
darüber nachzugrübeln, wie schlecht es ihnen geht. »Ich glaube, im Krieg ist
alles anders«, sagte ich, unfähig, mein wachsendes Unbehagen zu verbergen.
»Ich glaube, dass in solchen Zeiten andere Regeln gelten. Ich kann mir
vorstellen, dass Niedergeschlagenheit im Krieg gleichbedeutend ist mit dem Gefühl,
sich geschlagen zu geben. Vielleicht ist es das, was Churchill sagen wollte.«
    Sie
nickte, und ein dünnes Lächeln umspielte ihre Lippen. Sie machte es mir
absichtlich schwer, und ich hatte keine Ahnung, warum. Ich war auf ihren
Wunsch hin nach Kent gekommen, aber sie ließ mich weder mit ihren Schwestern
sprechen, noch ging sie direkt auf meine Fragen ein, sondern spielte mit mir
Katz und Maus. Genauso gut hätte sie Adam Gilbert das Projekt fortführen lassen
können. Er hatte seine Gespräche bereits geführt, er hätte sie nicht weiter
belästigen müssen. Es war sicherlich ein Anzeichen von äußerstem Unbehagen und Frustration,
als ich schließlich sagte: »Warum haben Sie mich gebeten

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