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Morton, Kate

Morton, Kate

Titel: Morton, Kate Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die fernen Stunden
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Foto in dem Buch, das ich im Dorf gekauft hatte. Die angsterfüllten
Augen, die verkniffenen Gesichtszüge, der Eindruck, dass ein ungeheures Gewicht
auf diesem Körper lastete. Einen ähnlichen Eindruck vermittelte seine älteste
Tochter jetzt. Sie war in ihrem Sessel regelrecht geschrumpft, ihre Kleidung
wirkte auf einmal zu groß für ihren knochigen Körper. Das Erzählen hatte sie
erschöpft, ihre Augenlider waren schwer, und die zarte Haut war blau geädert.
Wie grausam, dachte ich, dass eine Tochter auf diese Weise für die Sünden ihres
Vaters büßen musste.
    Der Regen
draußen hielt unvermindert an, doch mittlerweile herrschte völlige Dunkelheit.
Das Kaminfeuer, das Percys Geschichte mit seinem Flackern begleitet hatte, war
fast erloschen, und die letzte Wärme wich aus dem Arbeitszimmer. Ich klappte
mein Notizheft zu. »Wollen wir für heute Schluss machen?«, fragte ich und
hoffte, nicht unhöflich zu klingen. »Wir könnten morgen weitermachen, wenn Sie
möchten.«
    »Fast,
Miss Burchill, ich bin fast fertig.«
    Sie
schüttelte die letzte Zigarette aus dem Päckchen und klopfte das Ende auf den Schreibtisch.
Es dauerte einen Moment, bis sie ein Streichholz entzündet hatte und die
Zigarette brannte. »Jetzt wissen Sie über Sykes Bescheid«, sagte sie, »aber
noch nicht über den anderen.«
    Den
anderen. Mir stockte der Atem.
    »Ich sehe
Ihrem Gesicht an, dass Sie wissen, von wem ich spreche.«
    Ich nickte
betreten. Es gab einen gewaltigen Donnerschlag, und ich fröstelte. Ich klappte
mein Notizheft wieder auf.
    Sie
inhalierte heftig und musste beim Ausatmen husten. »Junipers Freund.«
    »Thomas
Cavill«, flüsterte ich.
    »Er ist
sehr wohl an jenem Abend hier eingetroffen. Am 29. Oktober 1941. Schreiben
Sie das auf. Er ist hergekommen, wie er es ihr versprochen hatte. Nur hat sie
es nie erfahren.«
    »Warum
nicht? Was war passiert?« Jetzt, so kurz davor, die Wahrheit zu erfahren, war
ich mir nicht mehr so sicher, ob ich sie wirklich hören wollte.
    »Ein
fürchterliches Gewitter war ausgebrochen, so ähnlich wie heute, und es war
stockfinster. Und es gab einen Unfall.« Sie sprach so leise, dass ich mich
vorbeugen musste, um sie verstehen zu können. »Ich habe ihn für einen
Einbrecher gehalten.«
    Ihr
Gesicht war aschfahl, und in seinen Falten las ich die jahrzehntealte Schuld.
»Ich habe das alles noch keinem Menschen vor Ihnen erzählt. Schon gar nicht der
Polizei. Ich fürchtete, dass man mir nicht glauben würde. Dass man annehmen
würde, ich wollte die Schuld für jemand anderen auf mich nehmen.«
    Juniper.
Juniper, die als Kind gewalttätig geworden war. Der Skandal mit dem Sohn des
Gärtners.
    »Ich habe
die Sache in die Hand genommen, ich habe mein Bestes getan. Aber bis heute weiß
niemand davon, und es ist an der Zeit, die Dinge richtigzustellen.«
    Da sah
ich, dass sie weinte. Tränen flossen ihr über das alte Gesicht. Ich war
erschüttert. Zwei Todesfälle, die vertuscht worden waren. Ich konnte keinen
klaren Gedanken fassen. Meine Gedanken verliefen ineinander wie Aquarellfarben.
Ich empfand keinerlei Genugtuung darüber, endlich die Antworten auf meine
Fragen zu bekommen. Ich war fassungslos, und ich machte mir Sorgen um die alte
Frau, die mir gegenübersaß, die über die quälenden Geheimnisse ihres Lebens
weinte. Ich konnte ihren Schmerz nicht lindern, aber ich konnte auch nicht einfach
nur dasitzen und vor mich hin starren.
    »Kommen
Sie«, sagte ich, »lassen Sie uns wieder nach unten gehen ...«
    Ich stand
auf und bot ihr meinen Arm an, und diesmal nahm sie mein Angebot wortlos an.
    Ich
stützte sie sanft, während wir langsam und vorsichtig die Wendeltreppe
hinuntergingen. Sie bestand darauf, ihren Stock selbst zu tragen, den sie
hinter sich her zog, sodass er auf jede Stufe schlug und unseren Abstieg mit
einem tröstlichen Rhythmus begleitete. Keine von uns sagte etwas, wir waren
beide zu erschöpft.
    Als wir
endlich die Tür zum gelben Salon erreichten, blieb Percy Blythe stehen. Mit
einer letzten Anstrengung gewann sie ihre Fassung wieder und schien einige
Zentimeter zu wachsen, als sie sich aufrichtete. »Kein Wort zu meinen
Schwestern«, sagte sie. Ihre Stimme war nicht unfreundlich, aber ihre wiedergewonnene
Schärfe ließ mich zusammenzucken. »Kein Wort, haben Sie mich verstanden?«
     
    »Sie
werden doch sicherlich zum Abendessen bleiben, Edith, nicht wahr?«, sagte Saffy
fröhlich, als wir zur Tür hereinkamen. »Ich habe ein bisschen mehr gekocht, als
es immer

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