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Morton, Kate

Morton, Kate

Titel: Morton, Kate Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die fernen Stunden
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aufgewacht, ließ seine Zwillingsschwester
schlafen und kletterte auf das niedrige Bücherregal, um den merkwürdig goldenen
Himmel zu betrachten. Was es sah, waren Flammen, die aus der Bibliothek
schlugen, und ganz unten einen Mann, schwarz und verkohlt, der in Todesangst
schrie, während er versuchte, aus dem Graben zu klettern.«
     
    Sie
schenkte sich erneut Wasser ein und trank mit zitternder Hand. »Erinnern Sie
sich daran, Miss Burchill, wie Sie zum ersten Mal zu Besuch kamen und davon
sprachen, die Vergangenheit würde in den Mauern singen?«
    »Ja.« Die
Besichtigungstour, die schon eine Ewigkeit her zu sein schien.
    »Ich hatte
Ihnen erzählt, dass das Unsinn sei, das mit den fernen Stunden. Dass die Steine
zwar alt seien, ihre Geheimnisse aber nicht preisgäben.«
    »Ich
erinnere mich.«
    »Das war
gelogen.« Sie hob das Kinn und betrachtete mich herausfordernd. »Ich höre sie.
Je älter ich werde, desto lauter werden sie. Diese Geschichte zu erzählen ist
mir nicht leichtgefallen, aber es musste sein. Wie gesagt, es gibt eine andere
Art von Unsterblichkeit, eine weitaus einsamere.«
    Ich
wartete ab.
    »Ein
Leben, Miss Burchill, ein menschliches Leben, wird von zwei Ereignissen
begrenzt: Geburt und Tod. Diese Daten gehören zu einem Menschen wie sein Name
und die Erfahrungen, die er dazwischen macht. Ich erzähle Ihnen diese
Geschichte nicht, weil ich auf Absolution hoffe. Ich erzähle Ihnen das alles,
um einen Tod aktenkundig zu machen. Verstehen Sie?«
    Ich nickte
und musste an Theo Cavill und seine Nachforschungen zum Verbleib seines
Bruders denken, an seine quälende Ungewissheit.
    »Gut«,
sagte sie. »In diesem Punkt darf keine Unklarheit herrschen.«
    Ihre
Erwähnung von Absolution erinnerte mich an Raymond Blythes Schuld, denn sie
war natürlich der Grund, warum er zum Katholizismus konvertiert war und einen
Großteil seines Vermögens der Kirche vermacht hatte. Und der andere Nutznießer
war das Pembroke-Farm-Institut gewesen. Nicht weil Raymond Blythe die Arbeit
dieser Einrichtung bewunderte, sondern weil er Schuld auf sich geladen hatte.
Mir kam ein Gedanke. »Sie sagten eben, dass Ihr Vater nicht wusste, dass er den
Albtraum inspiriert hatte: Ist es ihm später klar geworden?«
    Sie
lächelte. »Er erhielt einen Brief von einem norwegischen Doktoranden, der seine
Doktorarbeit über Körperverletzungen in der Literatur schrieb. Er war
interessiert an dem geschwärzten Körper des Modermanns, weil er fand, dass die
Beschreibungen an Darstellungen von Brandopfern erinnerten. Mein Vater hat dem
Mann nie geantwortet, aber da wusste er es.«
    »Wann war
das?«
    »Mitte der
Dreißigerjahre. Um diese Zeit fing es an, dass ihm der Modermann im Schloss
erschien.«
    Und um
diese Zeit hatte er dem Buch eine zweite Widmung vorangestellt. MB und OS. Das
waren gar nicht die Initialen seiner Frauen, sondern eine Ehrung der Toten,
die er auf dem Gewissen hatte. Etwas wunderte mich: »Sie haben es nicht selbst
gesehen. Woher wissen Sie dann so genau, was sich in der Bibliothek abgespielt
hat? Dass Oliver Sykes an jenem Abend hier war?«
    »Von
Juniper.«
    »Wie
bitte?«
    »Mein
Vater hat es ihr erzählt. Sie hatte im Alter von dreizehn selbst ein
traumatisches Erlebnis. Er hat ihr immer eingeredet, wie ähnlich sie sich
seien. Wahrscheinlich hat er angenommen, es würde sie trösten zu wissen, dass
wir alle fähig wären, Dinge zu tun, die wir später bereuen. Er konnte sehr
weise und zugleich sehr töricht sein.«
    Sie
verfiel in Schweigen, langte nach ihrem Wasserglas, und das ganze Zimmer schien
auszuatmen. Erleichterung darüber, dass die Wahrheit endlich enthüllt worden
war? War Percy Blythe erleichtert? Ich wusste es nicht. Sie war zweifellos
froh, ihre Pflicht erfüllt zu haben, aber nichts deutete darauf hin, dass das
Erzählen der Geschichte ihr die schwere Last von den Schultern genommen
hatte. Und ich glaubte auch zu wissen, warum: Jeder Trost, den sie daraus hätte
ziehen können, wurde überschattet von ihrer Trauer. Weise und
töricht. Das war das erste Mal, dass ich sie schlecht von ihrem
Vater hatte sprechen hören, und aus dem Mund von Percy Blythe, die doch sonst
so vehement sein Vermächtnis verteidigte, wogen die Worte besonders schwer.
    Wie auch
nicht? Was Raymond Blythe getan hatte, war unbestreitbar schändlich gewesen,
und es verwunderte nicht, dass er, im Bewusstsein seiner Schuld, allmählich den
Verstand verloren hatte. Mir fiel wieder jenes Foto vom älteren Raymond Blythe
ein, das

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