Morton, Kate
Herz
hämmerte, schickte Stromstöße durch meine Adern. Das war nicht der Wind und
auch nicht das Gemäuer. Jemand hatte den Namen meiner Mutter geflüstert! Panik
erfasste mich. Ich schlug die Decke zurück und sprang aus dem Bett. Schlich
auf Zehenspitzen zur Tür. Der Griff fühlte sich kühl und glatt an. Langsam und
geräuschlos zog ich die Tür auf, machte vorsichtig einen Schritt in den
Korridor und spähte in die Dunkelheit.
»Meredith ...«
Um ein
Haar hätte ich laut aufgeschrien. Die Stimme war hinter mir.
Ich fuhr
herum, und da stand Juniper. Sie trug dieselben Sachen, die sie während meines
ersten Besuchs in Milderhurst angehabt hatte, das Kleid, das Saffy - wie ich
inzwischen wusste - für das Abendessen mit Thomas Cavill für sie geändert
hatte.
»Juniper!«, stieß ich heiser aus.
»Was machen Sie hier?«
»Ich habe
auf dich gewartet, Merry. Ich wusste, dass du kommen würdest. Ich habe es dir
mitgebracht. Ich habe es die ganze Zeit für dich aufbewahrt.«
Ich hatte
keine Ahnung, was sie meinte, aber sie hielt mir im Dunkeln einen Gegenstand
hin. Eine Art Schachtel, nicht besonders schwer. »Danke«, sagte ich.
Meine
Augen hatten sich an die Dunkelheit gewöhnt, und ich sah, dass sie zögerlich
lächelte. »Ach, Meredith«, sagte sie. »Ich habe etwas Schreckliches getan.«
Genau
dasselbe hatte sie am Ende meines ersten Besuchs im Korridor zu Saffy gesagt.
Es war die falsche Frage, aber ich konnte sie mir nicht verkneifen: »Was denn?
Was haben Sie getan?«
»Tom kommt bald. Er kommt zum
Abendessen.«
Plötzlich
empfand ich tiefes Mitleid mit ihr. Seit fünfzig Jahren wartete sie nun schon
auf ihn, überzeugt, dass er irgendwann kommen würde. »Natürlich kommt er«,
erwiderte ich. »Tom liebt Sie. Er will Sie heiraten.«
»Tom liebt mich.«
»Ja.«
»Und ich liebe ihn.« »Das weiß
ich.«
Es
berührte mich sehr, wie sie zurückkehrte, in glücklichere Zeiten, doch dann
schlug sie sich entsetzt die Hände vor den Mund und sagte: »Aber da war Blut,
Meredith ...«
»Was?«
»... so
viel Blut ... auf meinen Armen und auf meinem ganzen Kleid ...« Sie sah an
sich hinunter, und dann schaute sie wieder mich an. Sie bot ein Bild des
Jammers. »Blut, Blut, überall Blut. Und Tom ist nicht gekommen. Aber ich
erinnere mich nicht. Ich kann mich einfach nicht erinnern.«
Und da
fiel es mir wie Schuppen von den Augen.
Auf einmal
passte alles zusammen, und mir wurde klar, was sie verheimlichten. Was Thomas
Cavill wirklich zugestoßen war. Wer für seinen Tod verantwortlich war.
Junipers
Phasen der Amnesie nach traumatischen Erlebnissen, die Gewaltausbrüche, an die
sie sich nicht erinnern konnte, der Vorfall mit dem Gärtnersohn, den sie
verprügelt hatte. Mit wachsendem Entsetzen fiel mir auch wieder ihr Brief an
meine Mutter ein, in dem sie über ihre einzige Angst geschrieben hatte: dass
sie genauso enden würde wie ihr Vater. Und genau das war eingetreten.
»Ich kann
mich nicht erinnern«, sagte sie erneut. »Ich kann mich einfach nicht erinnern.«
Sie sah mich ratlos an, und obwohl mir vor dem, was sie mir erzählte, grauste,
wollte ich sie in diesem Augenblick nur noch in die Arme schließen, ihr ein
bisschen von der Last nehmen, die sie seit fünfzig Jahren mit sich herumtrug.
Sie flüsterte noch einmal: »Ich habe etwas Schreckliches getan«, und ehe ich
irgendetwas Beruhigendes sagen konnte, lief sie an mir vorbei zur Tür.
»Juniper«,
rief ich ihr nach. »Warten Sie!«
»Tom liebt
mich«, sagte sie, als hätte sie ihr Glück gerade erst erkannt. »Ich will nach
ihm Ausschau halten. Er kommt bald.«
Und dann
verschwand sie im dunklen Flur.
Ich warf
den Gegenstand, den sie mir gegeben hatte, in Richtung Bett und lief hinter
ihr her. Folgte ihr um eine Ecke in einen weiteren kurzen Korridor, bis sie
einen kleinen Treppenabsatz erreichte, von dem aus eine Treppe nach unten
führte. Ein beißender, feuchter Luftzug fegte von unten herauf; offenbar hatte
sie eine Tür geöffnet und wollte in die kalte, verregnete Nacht hinaus.
Ich zögerte.
Ich konnte sie nicht einfach den Elementen überlassen. Am Ende lief sie noch
die ganze Zufahrt hinunter bis zur Straße, in der Hoffnung, dass Thomas Cavill
ihr entgegenkam. Am Fuß der Treppe befand sich eine Tür, die durch einen
kleinen Vorbau nach draußen führte.
Es regnete
immer noch in Strömen, aber ich konnte erkennen, dass eine Art Garten vor mir
lag. Viel schien dort nicht zu wachsen, hier und da standen ein paar
merkwürdige
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