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Morton, Kate

Morton, Kate

Titel: Morton, Kate Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die fernen Stunden
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und ihrer Schwester
geht es nicht gut.
    »Unserer
Schwester geht es nicht gut«, sagte sie, und mich verließ der Mut. »Es hat
nichts mit Ihnen zu tun. Sie kann manchmal sehr grob sein, aber sie meint es
nicht so. Sie hat eine schwere Enttäuschung erlebt. Eine schlimme Sache. Vor
langer Zeit.«
    »Sie
müssen sich doch nicht rechtfertigen«, sagte ich. Bitte schicken Sie mich nicht fort.
    »Sehr
freundlich, aber es ist mir ein Bedürfnis. Diese Taktlosigkeit. Sie kommt
nicht gut zurecht mit Fremden. Es ist eine große Belastung für uns. Unser
Hausarzt ist vor zehn Jahren gestorben, und wir haben immer noch keinen neuen
gefunden, mit dem wir zufrieden sind. Sie ist manchmal völlig verwirrt. Ich
hoffe, Sie glauben nicht, unwillkommen zu sein.«
    »Ganz und
gar nicht, ich kann das vollkommen verstehen.«
    »Das hoffe
ich. Denn wir freuen uns sehr über Ihren Besuch.« Wieder dieses schmale
Haarnadel-Lächeln. »Das Schloss mag Besucher; es braucht Besucher.«
     
    Hausgeister
     
    Am Morgen
meines zehnten Geburtstag fuhren meine Eltern mit
mir ins Bethnal-Green-Museum, wo wir uns die Puppenhäuser ansehen wollten. Ich
weiß nicht mehr, wie sie auf die Puppenhäuser gekommen waren, ob ich mich dafür
interessiert hatte oder ob meine Eltern in der Zeitung etwas über die Sammlung
gelesen hatten, aber ich erinnere mich sehr genau an den Tag. Es ist eine
dieser wenigen frühen Erinnerungen, die ewig bleiben; rund und in sich
geschlossen, wie eine schöne Seifenblase, die nie geplatzt ist. Wir sind mit
dem Taxi hingefahren, was ich sehr schick fand, und danach waren wir in einem
feinen Café in Mayfair. Ich weiß sogar noch, was ich anhatte: ein Minikleid
mit Rautenmuster, das ich mir monatelang gewünscht und an diesem Morgen zum
Geburtstag bekommen hatte.
    Und dann
erinnere ich mich auch noch sehr deutlich daran, dass wir meine Mutter verloren
haben. Vielleicht ist dieses Erlebnis, und weniger der Besuch der
Puppenhäuser, der Grund, warum dieser Tag nicht in dem chaotischen Sammelsurium
meiner Kindheitserinnerungen untergegangen ist. Die Welt stand plötzlich köpf.
Erwachsene gingen nicht verloren, nicht in meiner Welt: So etwas passierte
Kindern, kleinen Mädchen wie mir, die am liebsten ihren Tagträumen nachhingen
und nicht aufpassten, wo sie hintraten, und überhaupt viel zu selbstvergessen
waren.
    Aber nicht
diesmal. Diesmal, es war unerklärlich, unfassbar, war meine Mutter verschwunden.
Mein Vater und ich standen in der Schlange, um ein Souvenir-Heftchen zu kaufen,
als es passierte; langsam schoben wir uns vorwärts, jeder in seine Gedanken
vertieft. Erst als wir an der Kasse standen und zuerst die Verkäuferin, dann
einander stumm anblinzelten, wurde uns plötzlich bewusst, dass unser
traditionelles Familiensprachrohr fehlte.
    Ich habe
sie schließlich gefunden; sie kniete vor einem Puppenhaus, an dem wir schon
vorbeigekommen waren. Es war groß und düster, mit vielen Treppen und einem Speicher,
der das ganze Dachgeschoss einnahm. Sie erklärte mir nicht, warum sie noch
einmal dorthin zurückgekehrt war, sondern sagte nur: »Solche Häuser gibt es
wirklich, Edie. Richtige Häuser mit echten Menschen darin. Kannst du dir das
vorstellen? So viele Zimmer?« Ihre Mundwinkel zuckten, als sie leise in einem
langsamen Singsang fortfuhr: »Alte Mauern,
die von fernen Stunden singen.«
    Ich glaube
nicht, dass ich etwas geantwortet habe. Erstens blieb keine Zeit — genau in dem
Moment kam mein Vater, er war ganz aufgeregt und wirkte irgendwie persönlich
getroffen - und zweitens wusste ich einfach nicht, was ich sagen sollte. Obwohl
wir nie wieder darüber sprachen, dauerte es ziemlich lange, bis ich die
Vorstellung ganz aufgab, dass es draußen in der großen, weiten Welt solche
Häuser gab, mit echten Menschen darin und Mauern, die singen konnten.
    Ich
erwähne das Bethnal-Green-Museum hier nur, weil mir, als Percy Blythe mich
durch dunkle Flure führte, die Bemerkung meiner Mutter wieder einfiel, immer
deutlicher, bis ich ihr Gesicht vor mir sah, ihre Worte hörte, so klar, als
stünde sie direkt neben mir. Vielleicht hatte es ja etwas mit dem seltsamen
Gefühl zu tun, das auf mir lastete, während wir das gewaltige Haus erkundeten,
mit dem Eindruck, irgendwie Opfer eines Zaubers zu sein, der mich auf
Miniaturgröße geschrumpft und in ein Puppenhaus befördert hatte, wenn auch in
ein ziemlich heruntergekommenes. Eins, dessen Besitzer den Kinderschuhen
entwachsen war und sich anderen Obsessionen zugewandt hatte;

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