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Morton, Kate

Morton, Kate

Titel: Morton, Kate Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die fernen Stunden
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überhaupt keinen Grund hatten, sich die Kletterpartie
zuzumuten, suchten das Kinderzimmer auf. »Ich will nur kurz vorbeischauen«,
sagten sie, bevor sie im Treppenhaus verschwanden und ungefähr eine Stunde
später verlegen wieder herunterkamen. Saffy und Percy warfen einander amüsierte
Blicke zu und vertrieben sich die Zeit damit zu spekulieren, was in aller Welt
der ahnungslose Gast da oben gemacht haben könnte - denn eins war klar: Juniper
war keine zuvorkommende Gastgeberin. Nicht dass ihre kleine Schwester unhöflich
war, aber sie war nicht besonders gesellig und am liebsten mit sich allein.
Und das war auch gut so, da sie wenig Gelegenheit gehabt hatte, andere Menschen
kennenzulernen. Es gab keine Kusinen in ihrem Alter, keine Freunde der
Familie, und der Vater hatte darauf bestanden, dass sie ihren Schulunterricht
zu Hause erhielt. Saffy und Percy konnten sich nur vorstellen, dass Juniper
ihre Besucher ignorierte, sie ungehindert in dem Chaos ihres Zimmers
herumschlendern ließ, bis sie dessen überdrüssig wurden und von allein wieder
gingen. Es war eins von Junipers erstaunlichsten Talenten, das sie seit ihrer
Geburt besaß: die überwältigende Anziehungskraft, die sie auf alle ausübte, ein
Phänomen, das einer wissenschaftlichen Untersuchung wert gewesen wäre. Selbst
Leute, die Juniper nicht leiden konnten, wollten von ihr gemocht werden.
    Aber als
Saffy an jenem Tag im Oktober zum zweiten Mal die Treppe hochstieg, war die
Enträtselung des geheimnisvollen Charmes ihrer kleinen Schwester das Letzte,
was ihr auf den Nägeln brannte. Das Gewitter zog sich schneller zusammen als
Mr. Potts' Heimwehr, und die Fenster des Dachzimmers standen weit offen. Es war
ihr aufgefallen, als sie bei den Hühnern war und Helen-Melons Federn
gestreichelt und sich um Lucys finstere Stimmung gesorgt hatte. In einem
Fenster war das Licht angegangen, und als sie hochblickte, sah sie Lucy, die
die Krankenhauspuppen aus dem Nähzimmer holte. Sie war dem Weg der
Haushälterin mit Blicken gefolgt, ein Schatten, der an den Fenstern im ersten
Stock vorbeihuschte, das schwache Tageslicht, als sie die Tür zum Flur
öffnete, dann eine oder zwei Minuten nichts, bis das Licht im oberen
Treppenhaus anging, das zum Dachboden führte. Da waren ihr die Fenster
eingefallen. Sie selbst hatte sie am Morgen geöffnet in der Hoffnung, dass die
frische Luft den Mief der letzten Monate vertreiben würde. Diese Hoffnung würde
sich wohl kaum erfüllen, aber es war doch sicher besser, etwas vergeblich zu
versuchen, als von vornherein aufzugeben, oder? Doch jetzt, wo Regen in der
Luft lag, musste sie die Fenster schließen. Sie hatte gewartet, bis das Licht
im Treppenhaus ausging, dann noch einmal fünf Minuten, und als sie sich ganz
sicher war, dass sie Lucy auf dem Weg nach oben nicht begegnen würde, war sie
ins Haus gegangen.
     
    Nachdem
sie sorgfältig darauf geachtet hatte, nicht auf die drittletzte Stufe zu treten
- das fehlte ihr noch, dass der Geist des kleinen Onkels ausgerechnet heute
Abend sein Unwesen trieb -, öffnete sie die Kinderzimmertür und schaltete das
Licht ein. Es leuchtete ganz schwach, wie alle Birnen im Haus, und Saffy blieb
in der Tür stehen. Das tat sie, abgesehen von dem schwachen Licht, aus
Gewohnheit, wenn sie sich in Junipers Reich vorwagte. Es gab wahrscheinlich nur
wenige Zimmer auf der Welt, dachte Saffy, die vor dem Betreten einen genauen
Plan erforderten. Das Zimmer als Saustall zu bezeichnen war vielleicht
übertrieben, aber nur ein bisschen.
    Der Mief
war nicht verflogen; gegen den Gestank nach schalem Zigarettenrauch, Tinte,
nassem Hund und Mäusedreck konnten ein paar Stunden frische Luft nichts
ausrichten. Der Hundegeruch ließ sich leicht erklären — Junipers kleiner Hund
Poe war während ihrer Abwesenheit untröstlich gewesen und hatte abwechselnd am
Ende der Zufahrt und am Fußende ihres Betts Trübsal geblasen. Was die Mäuse
anging, war Saffy sich nicht sicher, ob Juniper sie womöglich fütterte oder ob
die kleinen Biester nur von dem Durcheinander in dem Zimmer profitierten.
Beides war möglich. Und auch wenn sie es nicht unbedingt zugeben würde, mochte
Saffy den Mäusegeruch; er erinnerte sie an Clementina, die sie sich am Morgen
ihres achten Geburtstags bei Harrods in der Haustierabteilung gekauft hatte.
Tina war ihr eine liebe kleine Freundin gewesen, bis zu dem unglücklichen
Zusammentreffen mit Percys Schlange Cyrrus. Ratten waren zwar eine übel
verleumdete Spezies, aber reinlicher als

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