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Morton, Kate

Morton, Kate

Titel: Morton, Kate Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die fernen Stunden
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dass Deutungen den Anstrich von Wahrheiten erhielten. Worte
wie »entwaffnend«, »ätherisch« und »betörend« wären von unschätzbarem Wert für
den Autor, ebenso wie »leidenschaftlich« und »verwegen« und hin und wieder
sogar - auch wenn Saffy das niemals laut aussprechen würde - »gewalttätig«. Bei
TS. Eliot hieße sie wahrscheinlich »Juniper - die undurchschaubare Katze«.
Saffy lächelte bei dem Gedanken und wischte sich den Staub von den Händen; Juniper
hatte tatsächlich etwas Katzenhaftes: die weit auseinanderstehenden Augen, der
intensive Blick, die Leichtfüßigkeit, die Unempfänglichkeit für unerbetene
Aufmerksamkeit.
    Saffy
watete durch das Papiermeer zu den anderen Fenstern und erlaubte sich einen
kleinen Umweg am Schrank vorbei, an dem das Kleid hing. Sie hatte es am Morgen,
nachdem sie sich vergewissert hatte, dass Percy aus dem Haus war, aus seinem
Versteck geholt und sich über die Arme gelegt wie das schlafende Dornröschen.
Sie hatte einen Kleiderbügel extra verbiegen müssen, damit die Seide sich so um
die Schrankecke legte, dass sie von der Tür aus zu sehen war. Das Kleid musste
das Erste sein, was Juniper erblickte, wenn sie am Abend die Tür zu ihrem
Zimmer öffnete und das Licht anknipste.
    Ach, das
Kleid — ein perfektes Beispiel für die undurchschaubare Juniper. Als der Brief
aus London kam, hatte er Saffy dermaßen überrascht, dass sie ihn, wenn sie
nicht zahllose Male Zeugin der unerwarteten Kehrtwendungen ihrer Schwester
geworden wäre, für einen Scherz gehalten hätte. Wenn es etwas gab, worauf sie
Geld verwetten würde, dann dies: Juniper Blythe interessierte sich nicht die
Bohne für schöne Kleider. Sie hatte ihre Kindheit in einfachen weißen
Baumwollkleidchen verbracht, war stets barfuß gelaufen und besaß ein seltsames
Talent dafür, jedes neue Kleid, egal wie raffiniert es geschnitten war,
innerhalb von zwei Stunden in eine sackartige Hülle zu verwandeln. Und entgegen
Saffys heimlicher Hoffnung hatte sich das auch nicht geändert, als Juniper
erwachsen wurde. Während andere siebzehnjährige Mädchen es nicht erwarten
konnten, zu ihrem ersten Ball nach London zu fahren, hatte Juniper kein Wort
darüber verloren und Saffy, als sie das Thema ansprach, mit einem vernichtenden
Blick bedacht, von dem sie sich erst nach Wochen erholt hatte. Andererseits war
das auch wieder gut so gewesen, da ihr Vater ohnehin niemals seine Zustimmung
gegeben hätte. Juniper war sein »Burgfräulein«, wie er zu sagen pflegte, und es
gab keinen Grund für sie, das Schloss zu verlassen. Welchen Nutzen sollte ein
junges Mädchen wie sie von einem Debütantinnenball haben?
    Die hastig
hingeworfene Nachschrift in Junipers Brief, in der sie Saffy fragte, ob sie ihr
nicht irgendwie ein Kleid nähen könnte, das sich als Ballkleid eignete - ob sie
nicht irgendwo noch ein Kleid von Junipers Mutter hätten? Etwas, das sie vor
ihrem Tod in London getragen hatte, etwas, das man vielleicht ändern könne? -,
hatte sie zutiefst verwirrt. Der Brief war ausdrücklich nur an Saffy
adressiert, und so hatte sie, obwohl sie sich normalerweise mit Percy beriet,
wenn es um Juniper ging, im stillen Kämmerlein über Junipers Bitte nachgedacht.
Nach einigem Hin und Her war sie zu dem Schluss gekommen, dass das Stadtleben
ihre kleine Schwester einfach verändert hatte, und sie fragte sich, ob es sie
vielleicht noch in anderer Hinsicht verändert hatte. Womöglich hatte Juniper
vor, nach dem Krieg für immer nach London zu ziehen, fort von Milderhurst, ganz
gleich, was der Vater für sie vorgesehen hatte.
    Auch wenn
sie nicht wusste, warum Juniper sie um den Gefallen gebeten hatte, war es
Saffy eine große Freude, ihr behilflich zu sein. Neben der Schreibmaschine war
ihre Singer 201K -
zweifellos das beste Modell, das je hergestellt worden war - ihr ganzer Stolz,
und seit Kriegsbeginn hatte sie mit großem Fleiß genäht, allerdings
ausschließlich praktische Dinge. Eine Zeit lang mal nicht stapelweise Decken
und Krankenhausschlafanzüge anfertigen zu müssen, sondern stattdessen etwas
Modisches zu kreieren, war eine aufregende Herausforderung. Und Saffy hatte
sofort gewusst, welches Kleid ihre Schwester meinte, sie hatte es schon damals
sehr bewundert, an jenem unvergesslichen Abend, als ihre Stiefmutter es in
London zur Premiere von Vaters Stück getragen hatte. Seitdem lag es sorgfältig
verpackt im Familienarchiv, einem luftdicht abgeschlossenen Raum, dem einzigen
im Schloss, wo es vor Motten geschützt

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