Morton, Kate
Saffy.
Die
Beklemmungen von Monaten verdichteten sich zu einer bleiernen Kugel in Percys
Magen. Sie musste sich zusammenreißen. Sie würde nichts damit erreichen, wenn
sie Saffy den Abend verdarb - ihre Zwillingsschwester hatte weiß Gott wenig
Gelegenheit, ihre Freude an Dinnerpartys auszuleben. Aber es schauderte Percy,
wie groß die Versuchung war. Es war so ein ähnliches Gefühl, wie an einem
Abgrund zu stehen und genau zu wissen, dass man nicht springen darf, und
dennoch von dem unwiderstehlichen Drang zu springen übermannt zu werden.
Gott, sie
war ein hoffnungsloser Fall. Etwas in ihrem Innern war grundlegend gestört,
verdorben und zutiefst unsympathisch. Dass sie auch nur eine Sekunde lang in
dem Gedanken schwelgen konnte, wie einfach es wäre, ihre nervtötende, geliebte
Schwester um ihr Glück zu bringen. War sie schon immer so pervers gewesen?
Percy seufzte tief. Sie war krank, daran bestand kein Zweifel, und zwar nicht
erst seit Kurzem. Ihr Leben lang ging das schon so: Je mehr Saffy sich für
einen Menschen oder einen Gegenstand oder eine Idee begeisterte, desto weniger
konnte Percy aus sich herausgehen. Es war, als wären sie ein einziges, in zwei
Teile geteiltes Lebewesen, und als gäbe es nur wenige Gefühle, die sie
gleichzeitig empfinden konnten. Und Percy hatte sich irgendwann aus irgendeinem
Grund entschlossen, für Ausgleich zu sorgen: Wenn Saffy litt, verbreitete
Percy Heiterkeit, wenn Saffy freudig erregt war, überschüttete Percy sie mit
Sarkasmus. Wie verdammt freudlos sie doch war.
Das
Grammofon war geöffnet und gereinigt worden, und daneben lag ein Stapel
Schallplatten. Percy nahm eine davon in die Hand, ein neues Album, das Juniper
aus London geschickt hatte. Der Himmel wusste, wo und auf welche Weise sie es
erworben hatte; Juniper fand Mittel und Wege, kein Zweifel. Musik würde jetzt
sicherlich helfen. Sie senkte die Nadel, und Billie Holidays schmachtende
Stimme ertönte. Percy atmete aus, vom Whisky durchwärmt. Schon besser:
zeitgenössische Musik, die keine Assoziationen auslöste. Vor vielen Jahren hatte
eine Aufgabe, die der Vater sich ausgedacht hatte, das Wort »Nostalgie«
enthalten. Er hatte die Definition aus dem Wörterbuch vorgelesen: »heftige
Sehnsucht nach der Vergangenheit«, und Percy hatte damals mit dem Hochmut der
Jugend über eine solche Vorstellung nur den Kopf geschüttelt. Sie konnte sich
nicht vorstellen, wie jemand sich nach der Vergangenheit sehnte, wo doch die
Zukunft alle verlockenden Geheimnisse bereithielt.
Percy
trank ihr Glas aus, drehte es gedankenverloren hin und her und sah zu, wie die
letzten Tropfen am Boden zu einer kleinen Pfütze zusammenliefen. Natürlich war
es die Begegnung mit Lucy, die sie aus dem Konzept gebracht hatte, aber schon
der ganze Tag hatte unter einem düsteren Vorzeichen gestanden, und auf einmal
musste Percy wieder an Mrs. Potts von der Poststelle denken. An ihre Mutmaßung,
ja, Behauptung, Juniper sei verlobt. Es war schon immer viel über Juniper
getratscht worden, aber Percy wusste aus Erfahrung, dass Gerüchte stets auch
ein Körnchen Wahrheit enthielten. Was in diesem Fall aber sicherlich nicht
zutraf.
Hinter ihr
öffnete sich die Tür mit einem Seufzer, und ein kühler Luftzug wehte aus dem
Flur herein.
»Nun?«,
fragte ihre Schwester atemlos. »Wo ist sie? Ich habe die Tür gehört.«
Wenn
Juniper sich jemandem anvertraute, dann nur Saffy. Nachdenklich klopfte Percy
mit dem Finger auf den Glasrand.
»Ist sie
schon hier oben?«, wollte Saffy wissen. Dann flüsterte sie: »Oder war er das?
Wie ist er? Wo ist er?«
Percy
straffte die Schultern. Wenn sie Saffys Entgegenkommen erreichen wollte,
musste sie wohl ein eindeutiges Friedensangebot machen. »Sie sind noch nicht
da«, sagte sie und schenkte ihrer Schwester ein, wie sie hoffte, unschuldiges
Lächeln.
»Sie
verspäten sich.«
»Nur ein
bisschen.«
Saffy
hatte dasselbe durchscheinende, verunsicherte Gesicht aufgesetzt wie früher,
als sie noch Kinder waren und ein Theaterstück für die Freunde des Vaters
einstudiert hatten und die Gäste noch nicht eingetroffen waren, um die
Zuschauerplätze zu besetzen. »Bist du dir ganz sicher?«, fragte sie. »Ich
könnte schwören, dass ich die Tür gehört habe.«
»Du kannst
ja unter den Stühlen nachsehen«, entgegnete Percy leichthin. »Außer mir ist
niemand hier. Was du gehört hast, war nur der Fensterladen da drüben. Er hat
sich im Sturm gelöst, aber ich habe ihn schon wieder repariert.« Mit
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