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Morton, Kate

Morton, Kate

Titel: Morton, Kate Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die fernen Stunden
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schüttelte sie den Kopf; sie wusste nicht
mehr, wie oft sie - vergeblich - versucht hatte, Percy beizubringen, vor der
Wäsche ihre Hosentaschen zu leeren.
    Seltsam -
Saffy schob die Schnipsel hin und her. Auf einem klebte eine Briefmarke. Ein
Brief, der zerrissen worden war.
    Aber warum
sollte Percy so etwas tun? Und von wem war der Brief?
    Ein Knall
im ersten Stock, und Saffy schaute erschrocken zur Decke hoch. Schritte, dann
noch ein Knall.
    Die
Haustür! Juniper war eingetroffen! Oder sollte er es sein, der junge Mann aus
London?
    Saffy
betrachtete die Papierschnipsel und biss sich auf die Lippe. Vor ihr lag ein
Rätsel, das sie lösen musste. Aber nicht jetzt, dazu fehlte die Zeit. Sie
musste nach oben, um Juniper und ihren Gast zu begrüßen, der Himmel allein
wusste, in welchem Zustand sich Percy inzwischen befand. Vielleicht würde der
zerrissene Brief die üble Laune ihrer Schwester erklären?
    Mit einem
entschlossenen Nicken versteckte Saffy ihren eigenen Brief im Oberteil ihres
Kleids und schob die Schnipsel aus Percys Hosentasche unter einen Topfdeckel,
der auf der Bank lag. Sie würde sich später damit befassen.
    Nachdem
sie ein letztes Mal nach der Kaninchenpastete gesehen hatte, rückte sie ihr
Kleid um den Busen zurecht, lockerte es ein bisschen um die Taille herum und
ging nach oben.
     
    Bildete
sie sich den fauligen Gestank vielleicht nur ein?, fragte sich Percy. In
letzter Zeit passierte ihr das öfter; einen Geruch, den man einmal wahrgenommen
hatte, wurde man nicht mehr los. Sie hatten das gute Zimmer seit einem halben
Jahr nicht mehr betreten, seit der Beerdigung ihres Vaters, und trotz aller
Mühen, die ihre Schwester auf sich genommen hatte, lag immer noch etwas
Modriges in der Luft. Der Tisch war in die Mitte des Zimmers gerückt worden,
mitten auf den Teppich aus Bessarabien, und war gedeckt mit dem besten Geschirr
ihrer Großmutter, vier Gläsern pro Gedeck und einer sorgfältig geschriebenen
Speisekarte an jedem Platz. Percy nahm eine davon in die Hand, um sie zu
lesen, stellte fest, dass Gesellschaftsspiele vorgesehen waren, und legte sie
wieder weg.
    Plötzlich
fühlte sie sich in einen Luftschutzbunker versetzt, in dem sie während der
ersten Wochen des Blitzkriegs Schutz gesucht hatte, als ein Besuch beim
Rechtsanwalt ihres Vaters durch Hitlers Bomben vereitelt worden war. Die
gezwungene Heiterkeit, die Lieder, der entsetzliche säuerliche Gestank nach
Angst ...
    Percy
schloss die Augen und sah ihn vor sich. Der ganz in Schwarz gekleidete Mann,
der während der Bombardierung hereingekommen war, sich unbemerkt an die Wand
gelehnt und mit niemandem gesprochen hatte. Den Kopf mit dem dunklen Hut tief
gebeugt. Percy hatte ihn beobachtet, fasziniert von der Art, wie er irgendwie
abseits von den anderen stand. Nur einmal hatte er aufgeblickt, kurz bevor er
seinen Mantel fester um sich gezogen hatte und in die lodernde Nacht
hinausgegangen war. Ihre Blicke waren sich kurz begegnet, und sie hatte in
seinen Augen nichts gesehen. Kein Mitgefühl, keine Angst, keine
Entschlossenheit; nur kalte Leere. Da hatte sie gewusst, dass er der Tod war,
und seitdem hatte sie oft an ihn gedacht. Wenn sie in einen Bombenkrater
kletterte, um die Leichen herauszuziehen, musste sie an die gespenstische,
entrückte Ruhe denken, die ihn begleitet hatte, als er aus dem Bunker in das
Chaos hinausgegangen war. Kurz nach dieser Begegnung hatte sie sich zum
Sanitätsdienst gemeldet, aber es war kein Heldenmut, der sie dazu getrieben
hatte, ganz und gar nicht. Es war einfach viel leichter, sich dem Tod draußen
in dem flammenden Inferno zu stellen, als eingeschlossen unter der bebenden,
stöhnenden Erde auf ihn zu warten, abgelenkt nur von verzweifeltem Frohsinn und
hilfloser Angst ...
    In der
Karaffe befanden sich noch ungefähr zwei Fingerbreit bernsteinfarbene
Flüssigkeit, und Percy fragte sich flüchtig, wann sie eingefüllt worden sein
mochte. Wahrscheinlich schon vor Jahren - denn neuerdings benutzten sie nur
noch die Flaschen im gelben Salon -, aber das machte nichts, Whisky wurde nur
besser, je älter er war. Nach einem kurzen Blick über die Schulter schenkte
Percy sich ein. Steckte den Kristallstopfen geräuschvoll wieder auf die
Karaffe, während sie einen Schluck trank. Und dann noch einen. Sie spürte das
angenehme Brennen in der Brust. Es war intensiv und real, und sie genoss es.
    Schritte.
Das Klappern von hohen Absätzen. Sie waren noch weit entfernt, kamen jedoch
rasch näher.

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