Morton Rhu - Leben und Werk
oder mir heimlich ein paar von unseren an Halloween erbeuteten Süßigkeiten geholt, die Dad für uns im Schrank aufbewahrte – angeblich, damit wir uns nicht den Magen daran verdarben. Aber wir hatten den starken Verdacht, dass er das nur vorgab, um selber was davon abzukriegen.
»Das ist nicht klauen. Wir kennen Linda doch«, zerstreute Ronnie meine Zweifel. »Habt ihr mal gesehen, was die alles in ihrer Tiefkühltruhe haben? Die ist so mit Fressalien vollgepackt, dass es Mrs Lewandowski gar nicht auffällt, wenn ein Kuchen fehlt.«
Wenn wir Pech haben, sind wir morgen alle tot
Der erste Schultag in der sechsten Klasse steht den Freunden bevor. Dass die Bungalows nicht unterkellert sind, bildet die gelungene narrative Verbindung zwischen den zwei Erzählsträngen: beide moralischen Probleme hängen von der Existenz von »Schutzbunkern« ab. Die Legitimation von Fehlverhalten – dem Tortenklau – bildet der leitmotivische Satz Ronnies: »Wenn wir Pech haben, sind wir morgen alle tot.« Mit oder ohne Bunker.
Als sich sein Vater verzweifelt gegen die Falltür des Bunkers stemmt, um die hereindrängenden Nachbarn abzuhalten, bittet Scott ihn, alle reinzulassen, obwohl genau das über Monate hinweg sein größter Albtraum war. Seit sein Vater ihm von dem Bunker erzählt hatte, befürchtete Scott, dass viel zu viele Menschen Zuflucht bei ihnen suchen wollen. Doch in der entscheidenden Situation siegen Scotts kindliche Gefühle über seinen Verstand. »Wegen Ihnen werden wir alle hier sterben«, ruft der Vater verzweifelt seinem Nachbarn zu, der es wie alle anderen in den vergangenen Jahren versäumt hat, einen Bunker zu bauen.
Über dem gesamten packenden Roman schwebt die atomare Bedrohung, die seit den 1960er Jahren in unserer Welt allgegenwärtig ist – bis heute, bis zum Konflikt zwischen Iran und Israel. Ein Ende ist nicht in Sicht.
Dad hat gesagt, dass man sich davor kaum schützen kann. Selbst wenn es einem gelingt, nicht direkt davon getroffen zu werden oder die winzigen Teilchen einzuatmen, setzen sie sich unweigerlich im Wasser und auf den Feldern ab, wo das Gemüse wächst. Am Ende des Zweiten Weltkriegs haben die Amerikaner Atombomben auf die japanischen Städte Hiroshima und Nagasaki abgeworfen. Hunderttausende von Japanern sind an den Folgen der Explosion und der Verstrahlung gestorben. Aber diese Bomben waren winzig im Vergleich zu denen, die unser Land und Russland jetzt besitzen.
Mir wird übel, wenn ich mir ausmale, wie es meinen Freunden und Verwandten ergangen ist. Spinner, Linda, Schwabbelbauch Wright und Johnny-der-Traumsohn-aller-Eltern liegen jetzt womöglich nur ein paar Meter über uns in den Trümmern und sterben einen qualvollen Tod. Sollten wir nicht hinaufgehen und schauen, ob wir ihnen helfen können? Vielleicht können wir ja etwas für sie tun. Aber ich weiß schon, was Dad dazu sagen würde. Wenn wir den Schutz des Bunkers verlassen, bekommen wir die Strahlung voll ab. Und das würde bedeuten, dass wir auch sterben müssten.
Moralische Problemstellungen sanft verpackt
Auch wenn die Leser wissen, dass nie eine Atombombe auf die USA gefallen ist, gehen die Szenen, die den Überlebenskampf im Bunker schildern, unter die Haut: Von Hygienemangel und Hungerleiden bis zu Depression und Aggression schildert Morton Rhue die quälende Situation der Familie Porter und einiger ihrer Nachbarn. Die philosophischen Fragen bezüglich menschlicher Ethik und Moral, die sich im Moment eines Atombombenangriffs für Scott und seine Familie stellen, sind für junge Leser vielleicht auf einer abstrakten und intellektuellen Ebene nicht immer vollständig nachvollziehbar. Da hilft die teils naiv hinterfragende Stimme des Erzählers ebenso wie der stetige Wechsel zur Alltagsebene der Geschichte, wo ebenfalls moralische Fragen aufgeworfen werden und ein scheinbar kindliches Nachdenken über eigenes Verhalten und moralische Bewertungsmaßstäbe angeregt wird.
»Du meinst, wir machen einfach das Garagentor auf?« Mein Unbehagen wuchs, als würde das Öffnen eines geschlossenen Garagentors ein noch schlimmeres Verbrechen darstellen als das Betreten einer bereits offen stehenden Garage.
Oftmals sind die beiden Erzählstränge auch scheinbar zufällig thematisch miteinander verknüpft. Eine solche Verbindung spannt Morton Rhue beispielsweise, als Scott von seinem Vater zu den benachbarten Lewandowskis geführt wird, damit er sich für den Tortendiebstahl entschuldigt – im vorangegangenen Kapitel wurde
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