Morton Rhu - Leben und Werk
der Leser mit dem Problem des Wassermangels im Bunker konfrontiert.
Als Scotts Vater ihn auffordert, zu versprechen, dass er nie mehr etwas nehmen wird, was ihm nicht gehört, wendet Scott ein:
»Aber was ist, wenn es wirklich einen Atomkrieg gibt und wir im Bunker überleben? Wenn wir wieder rauskommen, brauchen wir doch etwas zu essen, oder? … Ich meine, was ist, wenn wir auf andere Überlebende treffen würden, die noch etwas zu essen hätten, und wir wären kurz vor dem Verhungern?«
»Wir könnten sie fragen, ob sie uns etwas abgeben.«
»Und wenn sie uns nichts abgeben würden, weil sie dann selbst nicht genügend hätten? Dann haben wir doch gar keine andere Wahl, als ihnen ihr Essen zu stehlen, wenn wir nicht sterben wollen, oder?«
»Lass uns hoffen, dass das nicht passiert, Scott. Lass uns hoffen, dass es nicht zum Krieg kommt und wir uns nicht mit solchen Fragen beschäftigen müssen.«
»Aber wozu haben wir dann den Bunker?«
Die Vielschichtigkeit der Fragen, die beide Handlungsstränge vorantreiben, verleiht Morton Rhues Roman eine besondere Tiefe und Dichte. »Über uns Stille« spricht daher junge Menschen und Erwachsene gleichermaßen an. Um die Spannung aufrechtzuerhalten, setzt Rhue altbekannte Methoden ein: Die Kapitel – und damit die Erzählstränge – wechseln sich schnell ab, und oft enden sie mit einem Cliffhanger.
Außerdem werden die ernsten moralischen Fragestellungen aufgelockert durch komisch-skurrile bis liebevoll-nostalgische Einschübe, wie zum Beispiel die angedeutete mögliche Liebesgeschichte zwischen dem Erzähler und Linda Lewandowski, die seit dem Tortenklau stark bedroht ist. Immerhin hofft Scott Lindas Herz vielleicht wiedergewinnen zu können, wenn tatsächlich die Bombe fällt und er ihr dann Schutz in Daddys Bunker bieten kann. So wird der Roman bei aller Dramatik und Tragik fast durchgängig von einem herrlich komischen Ton durchzogen. Dazu kommt eine sanfte Ironie, die eine ganz neue Komponente in Morton Rhues sozialkritischen Werken darstellt:
Außerdem hatte er (der russische Präsident) einmal mitten in einer Rede vor den Vereinten Nationen so einen Wutanfall bekommen, dass er mit einem seiner Schuhe auf das Pult hämmerte. Damit war zweifelsfrei bewiesen, dass er und all die anderen russischen Kommunisten unberechenbar und gewalttätig waren und wahrscheinlich auch verrückt genug, um die Atombombe auf uns zu werfen …
Die Russen waren die Bösen und die Amerikaner die Guten – oder?
Eine weitere heitere und zugleich aufklärerische Komponente erhält der Roman durch die Figur des charismatischen Lehrers Mr Kasman. Statt die Schüler zu schikanieren oder sie sinnlos zu bestrafen, sucht der junge Pädagoge das Gespräch mit ihnen. Mr Kasman könnte ein Beatnik sein, vermuten einige Schüler, und damit viel großzügiger und freiheitlicher denken als die anderen Lehrer. Und tatsächliche analysiert Mr Kasman mit den Schülern Themen wie Vorurteil- und Klischeebildung und hilft ihnen so, den kalten Krieg im Kleinen zu überwinden. Denn bisher herrschte folgendes Bild vor:
Die Russen waren die Bösen und die Amerikaner die Guten. Wir hatten einen Präsidenten, der aussah wie ein Hollywoodstar und mit einer hübschen Frau verheiratet war, und wollten einfach nur in Frieden leben, Baseball spielen und unser Leben genießen. Der russische Regierungschef war hässlich, vermutlich unverheiratet, hatte schiefe Zähne und eine Glatze und legte es darauf an, Amerika zu vernichten. Sein Volk lebte in Angst, durfte seine Meinung nicht offen sagen und höchstwahrscheinlich noch nicht einmal Baseball spielen.
Außerdem besaßen die Russen Atombomben, und zwar echte und keine Zeichentrickbomben wie die von Boris Badenov, was mit ziemlicher Sicherheit der Grund dafür war, dass wir einen Luftschutzbunker bekommen würden und kein Schwimmbad.
Bei Mr Kasman bekommen die »Russen« menschliche Eigenschaften. Seine Schüler lernen, den »Feind« und die Entstehung der Kubakrise differenzierter zu betrachten. Mr Kasman erläutert die Grundlagen kommunistischen Denkens und vergleicht sie mit den Grundlagen des Kapitalismus. Der außergewöhnliche Pädagoge weist seine Schüler auch darauf hin, dass es in der Welt noch andere Dinge gibt außer Zivilschutzmasken, Luftschutzübungen und den drohenden Atomkrieg. Beispielsweise Rassismus. Scott lernt in der Schule, über Diskriminierung, Demokratie und den urmenschlichen Wunsch nach Gerechtigkeit nachzudenken. In seinem
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