Mosaik
klein. Hier gab es kein Meer, keinen Ozean, nur einen Ring aus schwarzem Wasser, das am Rand des Eisbergs blubberte und schäumte.
Konnte das Objekt dann als Eisberg bezeichnet werden? Konnte man es entsprechend definieren, obgleich ein Meer fehlte? Und wenn nicht: Welche Definition war dann angemessen?
Kathryns Gedanken rasten plötzlich, als sie einen sokratischen Dialog mit sich selbst begann. Das Streben nach Antwort und Erklärung gewann immer mehr Bedeutung.
Sie mußte feststellen, ob es wirklich kein Meer gab. Empirische Beweise, die Sicherheit brachten, letzten Zweifel ausräumten.
Sie trat einen Schritt vor und brach fast zusammen. Etwas war gebrochen, der Fuß oder das Bein, doch davon durfte sie sich jetzt nicht aufhalten lassen. Kathryn beschloß, den Schmerz als eine Art Fokussierungslinse zu nutzen, um sich dadurch noch mehr auf ihre Absicht zu konzentrieren. Jeder von Pein begleitete Schritt sollte ihre Entschlossenheit vergrößern, bis nichts mehr sie aufhalten konnte.
Auf diese Weise näherte sie sich dem Gebilde.
Dort offenbarten sich ihr mehrere Wahrheiten. Die erste belohnte ihre Determination: Es gab nicht nur einen Teich, sondern eine wesentlich größere, zugefrorene Wassermasse. Der Eisberg (ja, jetzt verdiente er diese Definition) ragte aus der dunklen Tiefe des verborgenen Meeres, aber auch an anderen Stellen zeigten sich Risse und Löcher im Eis, durch die man schwarzes Wasser sehen konnte. Ein Riese schien in einem Anfall von Zerstörungswut mit einer Spitzhacke immer wieder auf das Eis eingeschlagen zu haben. Kathryn entdeckte ständig neue Öffnungen, manche groß, manche klein. Dampf quoll aus ihnen hervor, und das sichtbare Wasser brodelte, als kochte es über einem verborgenen Feuer.
Die zweite Wahrheit lautete: Ihr Verstand funktionierte nicht richtig. Abgesehen von den Knochenbrüchen schien sie auch an einer Gehirnerschütterung zu leiden. Warum dieser irre Drang zu beweisen, daß der Eisberg ein Eisberg war? Dadurch lieferte sie sich der Irrationalität aus. Sie mußte sich auf die eigentlich wichtigen Dinge besinnen, ihre Wunden behandeln und irgendwo einen Unterschlupf finden. Wenn sie einfach nur dastand und zum Eisberg starrte, dauerte es nicht lange, bis sie erfror.
Kathryn trachtete danach, das Rätsel ihrer Situation mit Logik zu entwirren. Etwas war durchs Eis gebrochen. Das erklärte die vielen Löcher und Risse ebenso wie das aufgewühlte Wasser.
Einige Wrackteile des Raumschiffs, mit dem sie unterwegs gewesen war, mußten auf eine dünne Stelle der weiten Eisschicht herabgestürzt sein, und zwar mit einer ziemlich hohen
Temperatur – aufgrund der Reibungshitze beim Flug durch die Atmosphäre. Deshalb kochten die schwarzen Fluten.
Wrackteile des Raumschiffs, mit dem sie unterwegs gewesen war. Wie hieß es? Kathryn sah sich erneut um und stellte fest: Nur das Hecksegment, auf dem sie gesessen hatte, war noch einigermaßen intakt. Sie bemerkte eine Konsole, bei der noch einige Schaltflächen glühten. Doch was die anderen
Trümmerstücke um sie herum betraf: Keines von ihnen war größer als ein Quadratmeter.
Wo befand sich der Kontrollraum?
Wo befand sich der Pilot?
Woraus bestand ihre letzte Erinnerung, bevor sie sich in dieser kalten Wüste wiederfand, vor einem Ring aus brodelndem schwarzen Wasser?
Kathryn fragte sich plötzlich, ob der Fisch aus dem Aquarium hier in diesem Wasser trieb, das gegarte Fleisch halb von den Gräten gelöst. Welcher Fisch?
Und dann zeigte sich ihr die dritte Wahrheit, wie ein Phantom, das aus den Schatten eines Alptraums trat, vor ihr tanzte und sie verspottete.
Ihr Vater. Und ihr zukünftiger Ehemann. Sie befanden sich im Kontrollraum des abgestürzten Raumschiffs.
Und jetzt ruhten ihre Leichen irgendwo in den Tiefen des kalten schwarzen Meers.
Von einem Augenblick zum anderen verschwand Kathryns
Benommenheit. Sie sah alles ganz klar und deutlich, wußte genau, worauf es nun ankam. Entschlossen hob sie das
gebrochene Bein und stampfte damit auf den Boden, behutsam zunächst, dann immer fester und härter. Nur entsetzlicher Schmerz konnte die dritte Wahrheit verscheuchen und es Kathryn ermöglichen, das Grauenhafte zu verdrängen. Die Agonie vergrößerte die Distanz zu dem gräßlichen Phantom, das weiterhin tanzte. Die Pein löschte alles andere aus, füllte den ganzen Wahrnehmungskosmos.
Kathryn sank ins kalte Weiß, und bevor sie das Bewußtsein verlor, sah sie noch: Der Eisberg existierte nicht mehr. Er war im
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