Moser Und Der Tote Vom Tunnel
was die beiden Herren durchaus genossen. Sehnert war schon öfter in München gewesen, wobei er sich mit dieser Stadt jedoch nicht richtig anfreunden konnte. Irgendwie fühlte er sich als Pirmasenser nicht als vollwertiger Bayer. Man hatte im rechtsrheinischen Bayern vergessen, dass nicht Bayern die Pfalz geerbt hatte, sondern die bayerischen Könige aus dem Haus Pfalz-Zweibrücken stammten. Die Mehrzahl der aus dem sogenannten Mutterland in die Pfalz geschickten Beamten war dorthin strafversetzt und entsprechend unbeliebt. Des Weiteren hatte Sehnert vor einigen Jahren eine Beförderung ausgeschlagen, weil dies einen Umzug von Pirmasens nach Beilngries bedeutet hätte. Er scheute sich vor der bayerischen Provinz und blieb lieber der aufstrebenden Schuhmetropole Pirmasens treu, wo sein Vorfahre Mitte des letzten Jahrhunderts als Offizier und persönlicher Freund von Landgraf Ludwig IX. von Hessen-Darmstadt ansässig geworden war.
Die Weißwürste schmeckten Sehnert trotz seines zwiespältigen Verhältnisses zu München dennoch.
Moser bat Sehnert, bis zum morgigen Donnerstag in München zu bleiben, um mit ihm einen gemeinsamen Bericht abzufassen. Er brachte Sehnert in einer Pension in der Nähe der Theresienwiese unter. Die Fahndung nach Anton Tschulnigg wurde umgehend eingeleitet.
Sehnert beschloss, am Donnerstag den mittäglichen Zug zurück nach Pirmasens zu nehmen. Moser machte den Vorschlag, ihn zum Bahnhof zu begleiten, wobei man sich auf dem Weg dorthin beim ›Augustiner‹ noch einmal stärken könne. Er erklärte, dass die Weißwürste morgens besonders gut schmeckten, weil sie noch ganz frisch waren. »Meine Mutter sagte immer, unsere Weißwürscht sollten das Elfe-Läuten nicht erleben«, klärte er Sehnert auf, der sofort einwilligte.
Der Kriminalrat wollte gerade noch ein weiteres Paar Weißwürste bestellen, als ein Zeitungsverkäufer in das Lokal stürmte und lauthals schrie: »Extrablatt! Kaiser Wilhelm ist tot. Extrablatt, Kaiser …« Moser sprang spontan von seinem Stuhl auf. Sein erster Gedanke war, dass der Kaiser einem Attentat zum Opfer gefallen sei. Und die Waffe: ein Châtellerault-Gewehr. Er verlangte sofort nach einer Zeitung, konnte aber in der Aufregung seine Geldbörse nicht finden, weshalb Sehnert bei der Bezahlung aushelfen musste.
Beim Lesen beruhigte sich Moser jedoch schnell, als er las: »… Se. Majestät ist um 8 Uhr und 30 Minuten heute früh entschlafen …« Kaiser Wilhelm I. war also am 9. März 1888 eines natürlichen Todes gestorben. Und zwar an Altersschwäche. Immerhin war er einundneunzig Jahre alt geworden; außerdem hatten sich in den letzten Tagen die Gerüchte um den schlechten Gesundheitszustand des Monarchen verdichtet. Moser tupfte sich die Schweißtropfen von der Stirn, dann bestellte er die nächsten Weißwürste.
Sehnert nahm sich die Zeitung und las.
»Er war ja alt genug, unser Kaiser. Es hätte früher keiner geglaubt, dass dieser nachgeborene preußische Prinz, der in Koblenz wohnte, einmal deutscher Kaiser würde. Wilhelm I. war übrigens der Urenkel unseres Landgrafen. Leider hatte er doch wenig von seiner beliebten Mutter, Königin Luise. Aber er war wohl dennoch ein ganz guter Landesvater. Nun wird Kronprinz Friedrich wider Erwarten doch noch Kaiser, obwohl todkrank. Eigentlich ist es ein Jammer. Denn auf Friedrich hält man schließlich große Stücke. Habe ihn übrigens 1870 in Weißenburg persönlich kennen gelernt. Wirklich ein fähiger Mann. Hoffen wir einmal, dass ihm trotz seiner schweren Krankheit noch einige Jahre vergönnt sind. Doch ich glaube, dass dies einem Wunder gleichkäme«, meinte Sehnert.
»Ja, Sehnert«, erwiderte Moser, »es wäre gut für das Reich, wenn Kaiser Friedrich uns lange erhalten bleiben würde …«
Sehnert erreichte den Schnellzug nach Metz in letzter Minute, weil Moser sich kaum von der guten Küche des Augustinerwirts trennen konnte. Außerdem war am Karlstor kaum ein Durchkommen. Überall waren die Bürger auf den Beinen, es gab Trauergeläute, Geschäfte schlossen oder wiesen binnen kürzester Zeit mehr oder weniger geschmackvolle Dekorationen um das Bild oder eine Büste von Kaiser Wilhelm auf.
Es folgte eine Staatstrauer bis zur Beisetzung des Kaisers am 16. März. Als sein Sohn und Nachfolger Friedrich den Thron bestieg, war absehbar, dass er nur noch kurze Zeit zu leben hatte.
Anton Tschulnigg
Moser wartete mehrere Wochen vergeblich auf eine Nachricht von seinen Wiener Kollegen,
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