Moser Und Der Tote Vom Tunnel
dass dieses Steilfurt an der Franz-Josephs-Nordbahn liegt.«
»Ja, durchaus, Herr Kriminalrat. Steilfurt hat auch eine eigene Bahnstation. Aber leider konnte man auf dem hiesigen Hauptbahnhof keine Fahrkarten dorthin ausstellen. Es gibt in Wien keine durchgehenden Eisenbahnverbindungen. Die Züge aus München kommen am Westbahnhof an, die Züge nach Steilfurt fahren aber am Nordbahnhof ab. Die Verbindung über Gänserndorf und Lundenburg nach Brünn und Warschau scheint zwar recht gut zu sein, aber für die Unterwegsbahnhöfe kann man von Bayern aus keine Fahrkarten ausstellen. Wollte es ja selber nicht glauben«, erläuterte Hopfstangl.
»Österreich! Dort ist halt alles ein bisserl anders«, resümierte Moser, »und wie komme ich dann dorthin?«
»Hier ist eine Fahrkarte nach Wien, Herr Kriminalrat. Sie werden dort ohnehin übernachten müssen. Am Nordbahnhof können Sie dann sicher ein Billett nach Steilfurt erwerben. Soll ich die Kollegen in Wien informieren, damit man Sie am Westbahnhof abholt und in ein Hotel bringt?«, antwortete Hopfstangl.
»Nein, Hopfstangl«, erwiderte Moser, »ich werde incognito reisen. Die Kollegen erfahren noch früh genug von der Sache. Erst einmal will ich mir selber ein Bild von dort machen. Da wäre die Begleitung durch österreichische Polizisten sicher nicht förderlich. Man weiß ja, wie die Landbevölkerung denkt. Noch dazu in diesem Grenzland, wo es schon lange gärt. So ein Vielvölkerstaat kann einfach nicht gut gehen. Bitte bestellen Sie mir für morgen früh eine Droschke von meiner Wohnung zum Bahnhof. Wann fährt der erste Zug nach Wien?«
»Drei Minuten nach halb sieben.«
Moser tat die darauffolgende Nacht kaum ein Auge zu, so gespannt war er auf das, was ihn in Steilfurt alles erwarten würde.
Mosers Zug erreichte den Wiener Westbahnhof am späten Nachmittag. Er nahm einen Fiaker zu einem Hotel in der Vereinsgasse, das er schon von früher kannte, und mietete sich für vier Nächte ein. Moser erhielt ein Zimmer, aus dessen Fenster er den Platz vor dem Prater und den Nordbahnhof überblicken konnte. Er besorgte sich eine Landkarte der Gegend östlich von Wien und genoss den Abend mit einigen Krügerl Bier im Prater, nachdem er sich über den Fahrplan auf der Strecke nach Gänserndorf und Lundenburg erkundigt hatte.
Am nächsten Morgen begab sich Moser zum Fahrkartenschalter auf dem Nordbahnhof. Dort erlebte er eine weitere Überraschung: Dem Schalterbediensteten war Steilfurt, obwohl kaum fünfzig Kilometer entfernt, unbekannt. Erst nach einigem Suchen und Mosers Insistieren fand er endlich den Bahnhof auf der Streckenkarte und stellte die gewünschte Fahrkarte aus.
Der Kriminalrat musste zunächst den Schnellzug über Marchegg nach Pressburg nehmen und in Gänserndorf in einen Personenzug nach Lundenburg umsteigen. Die Landschaft war vollkommen eben und karg, außerdem breitete sich eine lähmende Hitze über der Pannonischen Tiefebene aus. Obwohl man erst den 15. Juni schrieb, war das Grün der Vegetation bereits einem einheitlichen Braun gewichen. Auf dem Bahnsteig in Gänserndorf zweifelte Moser einen Augenblick an seinem eigenen Verstand, weil er sich auf das Abenteuer eingelassen hatte, in dieses Dorf am Ende der Welt zu reisen, ohne genau zu wissen, was er hier eigentlich suchte. Als sich der Zug Richtung Steilfurt endlich in Bewegung setzte, kam seine Neugier zurück. Irgendetwas musste es dort geben, was mit dem Fall am Münchweiler Tunnel zusammenhing.
In der Ferne erblickte Moser die Kleinen Karpaten; so weit im Osten war er noch nie. Nach der Station Angern fuhr der Zug unmittelbar am bewaldeten Ufer der March entlang. Er hatte gelesen, dass der Fluss zwar eine stattliche Breite besaß, jedoch nur wenige Zentimeter tief war und kaum Fließgeschwindigkeit aufwies. Man konnte ihn problemlos durchwaten. Auf der anderen Seite lag die Slowakei, deren Hauptstadt Pressburg – die alte ungarische Krönungsstadt – fast zum Greifen nah war.
Das Steilufer wich zurück und machte den Blick frei auf einen Hügel mit einer kuppelgekrönten Kapelle; darunter lag eine Ziegelei. Nun konnte es nicht mehr weit sein. Wenig später hielt der Zug.
»Steilfurt, hier Steilfurt!«, rief der Stationsvorsteher. Der Kriminalrat beeilte sich, aus dem Waggon zu kommen. Eigentlich konnte er es sich nicht vorstellen, dass diese kleine Station sein Zielbahnhof sein sollte; beinahe wäre er weitergefahren. Moser blickte verächtlich auf das kleine, niedrige
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